Wie man mit Bauen ein gutes Lebensgefühl schafft
Der Bauboom in Bayern verändert Städte und Gemeinden nicht immer zum Vorteil. Professorin Katinka Temme erklärt, warum mehr regionale Architektur nötig ist, damit Bürger gerne in ihrem Ort wohnen
Bagger und Kräne sind allgegenwärtig. Der anhaltende Bauboom verändert Städte und Gemeinden rasant. Wer dringend eine Wohnung sucht, wird sich über rege Bautätigkeit freuen. Warum beobachten Sie diese Entwicklung nun aber mit Sorge, Frau Professor Temme?
Katinka Temme: Der Bagger in der Landschaft steht vielerorts für wirtschaftlichen Fortschritt, für neue Wohnhäuser, für ein Gewerbegebiet mit Arbeitsplätzen oder für einen dringend benötigten Supermarkt – alles für sich positive Dinge. Der Bagger steht aber auch für die Zerstörung von Naturräumen, für längere Wege im Alltag, für das Aussterben der traditionellen Ortszentren und damit auch für den Verlust von Identität.
Identität ist ein weiter Begriff, was meinen Sie damit konkret?
Temme: Wenn man an Städte wie Bamberg oder Landsberg am Lech denkt, hat man sofort positive Bilder im Kopf. Auch in der Augsburger Altstadt ist etwas Besonderes und Lebendiges spürbar. Überall dort gibt es typische, oftmals auch historisch bedeutsame Gebäude in den Zentren. Sie kommunizieren mit ihrer Umgebung, mit der Landschaft und dem örtlichen Leben der Menschen. Daraus ergibt sich der besondere Charakter eines Ortes, der stärker oder schwächer ausgeprägt ist.
Aber nicht jeder kann und will in einem Altbau wohnen oder arbeiten. Viele Menschen wünschen sich eine bezahlbare zeitgemäße Wohnung, gerade auch in Augsburg, wo die Einwohnerzahl wächst. Sollte dieser berechtigte Wunsch beim Bauen nicht Vorrang haben?
Temme: Ohne Bezug zu der Umgebung kiloweise Steine und tonnenweise Beton verbauen, das funktioniert nicht. Gerade im aktuellen Bauboom gilt, dass wir an den richtigen Stellen und mit guter Gestaltung bauen müssen. Deshalb sollten wir innehalten und überlegen: Was braucht ein Ort wirklich? Die Wertschätzung der lokalen Identität muss durch architektonische Gestaltung gestärkt werden, damit sich Menschen langfristig wohlfühlen.
Wollen Sie damit sagen, dass vor allem die vorhandene Bausubstanz erhalten und Ortskerne revitalisiert werden sollten, bevor neu gebaut wird? Temme: Es ist nicht so, dass man ein historisches Gebäude saniert, und dann brummt der Ort wieder. Aber Architektur kann einen wichtigen Beitrag leisten, damit Menschen stolz auf ihren Ort sind. Insgesamt wir das Bauen im Bestand wieder stärker in den Mittelpunkt stellen.
Warum halten Sie diesen Weg für den richtigen?
Temme: Als Architekturprofessorin bin ich in vielen Preisgerichten tätig. Oft habe ich den Eindruck, dass es Entscheidungsträgern in den Rathäusern an Wissen fehlt, wie sie ihren Heimatort nachhaltig wiederbeleben können. Deshalb habe ich zusammen mit meinem Kollegen Daniel Reisch 20 positive Beispiele gesammelt, wie man mit guter regionaler Architektur die Identität eines Ortes verbessern kann, auch wenn man Neues baut.
Welche Beispiele wären das?
Temme: Da wären einige zu nennen. Nehmen wir Blaibach in der Oberpfalz. Dort wurde ein Kulturfestival ins Leben gerufen und ein besonderes neues Konzerthaus gebaut, das traditionelle Handwerkstechniken in diesem Raum aufgreift. Blaibach hat sich mit diesem Projekt einen Namen gemacht. Plötzlich kennen sehr viele Menschen diesen kleinen Ort. Ein anderes Beispiel gibt es in Garmisch-Partenkirchen in der Nähe der Zugspitzbahn.
Was wurde dort gemacht?
Temme: Eine Bürgerinitiative erreichte dort, dass aus einem zunächst geplanten überdimensionierten Hotelprojekt eine modifizierte Bebauung mit angemessener Architektur wurde. Sie fügt sich sensibel in die Umgebung ein und verknüpft das neue Hotel mit neuen Wohnungen für die Bevölkerung, sodass alle profitieren. Ein weiteres Beispiel für gelungene regionale Architektur ist das neue SchmuttertalGymnasium in der Augsburger Umlandgemeinde Diedorf. Es zeigt, wie Schule heute sein kann – mit zeitgemäßen Lernräumen und nachhaltiger Holzbauweise. Das Gebäude passt gut zum ländlichen Umfeld und die Schüler fühlen sich dort wohl.
Normalerweise würde man das Problem mit verödenden Ortskernen vor allem im ländlichen Raum verorten, wie sehr sind Städte betroffen? Temme: Dieses Phänomen gibt es nicht nur auf dem Land. Man findet es auch in Städten, und das nicht nur in Bayern. Mit dem verstärkten Zuzug von Menschen in Metropolen stellt sich selbst in Großstädten die Frage: Was ist der jeweilige städtebauliche Charakter und was sind die Aufgaben der Planer, um ihn zu bemüssen wahren, zu stärken oder zurückzugewinnen.
Die Diskussion wird ja auch in Augsburg an einigen Stellen geführt. Was meinen Sie, läuft die Debatte in die richtige Richtung?
Temme: In Augsburg gab und gibt es gute Projekte. Man muss der Stadtverwaltung auch zugutehalten, dass sie sich sehr stark mit dem Bestand auseinandersetzt. Positiv ist beispielsweise, bei der groß angelegten Sanierung des Theaters auch das Umfeld zu betrachten und weitere Verbesserungen im Theaterviertel anzustreben. Andererseits finde ich es schade, dass man für das geplante Augsburger Neubaugebiet Haunstetten-Südwest so viel freie Fläche in Anspruch nimmt. Flächenfraß ist ein Problem, weil unsere gewachsene Kulturlandschaft mit Feldern und Wiesen ebenfalls Teil unserer Heimat ist. Die Entwicklung von Haunstetten-Südwest sollte außerdem nicht auf Kosten des gewachsenen Stadtteils Haunstetten erfolgen. Zusammen mit meinen Studenten habe ich im Rahmen des integrierten städtischen Entwicklungskonzeptes (ISEK) im Wintersemester 2018/19 überlegt, wie man den bestehenden Ortskern stärken und sinnvoll nachverdichten kann.
Sie haben ein neues Buch herausgebracht mit dem Titel „Mitten in Bayern“. Es geht der Frage nach, wie durch Architektur lokale Identität entsteht. Gibt es dafür Regeln? Temme: Wichtig wäre eine Baukultur, die zeitgenössisch ist, aber regionale Bauformen und Materialien berücksichtigt – eine Baukultur, die städtebauliche Verbesserungen und öffentliche Orte mit Aufenthaltsqualität schafft, die den Bestand an Gebäuden als Herausforderung begreift und auch mal zu ganz neuen Lösungen führt.
In der Region gibt es mehrere gelungene Bauprojekte – das sagt Architektin und Professorin Katinka Temme. Eines ist für sie das Schmuttertal-Gymnasium in Diedorf. Das Gebäude füge sich gut in das ländliche Umfeld ein.
In einigen Nachbarregionen gelingt das recht gut, etwa im österreichischen Vorarlberg oder im schweizerischen Graubünden. Sollten das Vorbilder sein, an denen wir uns orientieren? Temme: In Deutschland ist die Baukultur noch nicht so ausgeprägt wie in diesen Regionen. Auch dort ist nicht alles toll. Aber es wird immerhin darüber diskutiert, wie man leben will und welche Räume man dafür braucht. Hierzulande wird sehr viel gebaut, aber oft ohne einen Dialog über die Qualität. Selbst bei Bauten wie Supermärkten oder Tankstellen wäre mehr architektonische Qualität möglich.
Gute neue Architektur und die Sanierung von historischen Bauten muss man sich leisten können. Viele Städte und Gemeinden leiden jedoch unter Geldmangel ...
Temme: Es gibt etliche Förderprogramme der Staatsregierung, angefangen bei der Nachverdichtung von Baugebieten über Substanzerhaltung bis hin zum Bauen in der Ortsmitte. In unserem Buch wollen wir mit Beispielen und im Gespräch mit Akteuren aus verschiedenen Verwaltungsebenen Möglichkeiten aufzeigen, in Bayern gute Architektur zu fördern und zu fordern. Die Traditionen und die Kultur fortzuführen und zeitgemäß zu interpretieren, ist auch deshalb wichtig, um die positiven Chancen des gemeinsamen Erbes weltoffen und demokratisch für alle Bürger anzuwenden. Baukultur heißt, Tradition mit zeitgemäßen Mitteln fortzuführen.
ONeuerscheinung „Mitten in Bayern – Regionale Architektur und Identität“, Herausgeber Katinka Temme und Daniel Reisch, Verlag Detail Business Information GmbH in München, ISBN Print 978-3-95553-510-0
E-Book 978-3-95553-511-7
OZur Person Katinka Temme ist Architektin und Professorin an der Fakultät für Architektur und Bauwesen der Hochschule Augsburg.