Koenigsbrunner Zeitung

„Krisen bringen das Beste im Menschen hervor“

Bestseller-Autor Rutger Bregman: Krisen bringen das Beste im Menschen hervor

-

provokante­n Ideen für eine bessere, gerechtere Welt wurde Rutger Bregman berühmt. Auf dem Weltwirtsc­haftsforum in Davos las der Niederländ­er 2019 den Wirtschaft­sbossen die Leviten und verlangte höhere Steuern für Reiche. Bregmans Bestseller „Utopien für Realisten“erschien in mehr als 30 Ländern, seit kurzem liegt auf Deutsch auch sein neues Buch „Im Grunde gut“vor (Rowohlt, 480 S., 24 ¤).

Herr Bregman, sind Sie ein Gutmensch?

Rutger Bregman: Na klar! Ich bin freundlich, kooperiere gerne mit anderen und setze mich für eine bessere Welt ein. Das haben Menschen schon zu allen Zeiten getan, und nur deswegen sind wir so weit gekommen. Gut zu sein ist die wahre Superkraft unserer Spezies.

Tatsächlic­h? Sind nicht vielmehr Kriege, Machtkämpf­e und die Gier nach Wohlstand die Triebfeder­n unseres Handelns?

Bregman: Das dachte ich auch immer. Als Historiker beschäftig­t man sich ja vor allem mit Kriegen, Kriegen und nochmals Kriegen. Ich hatte auch dieses negative Menschenbi­ld und habe lange Zeit die klassische alte Geschichte vom menschlich­en Egoismus erzählt. Inzwischen weiß ich: Wir sind viel besser als unser Ruf. Fangen wir mit den Neandertal­ern an. Die waren um einiges schlauer und stärker als Menschen – aber warum haben wir uns durchgeset­zt? Weil wir sozialer, kooperativ­er und solidarisc­her waren.

Warum wissen wir dann so wenig über unsere guten Seiten?

Bregman: Weil die Nachrichte­n die Ausnahmen präsentier­en: Anschläge, Gewalt, Katastroph­en. Wir sind sensibler für das Böse als für das Gute, und so entsteht eine Sucht nach dem Negativen, rund um die Uhr genährt von Schlagzeil­en, die uns Angst machen. Auf diese Weise entsteht ein Zynismus, der wie ein fatales Nocebo wirkt: Wer nur Schlechtes denkt, sieht auch nur Schlechtes. Aus dieser Haltung heraus bezeichnet man Gutmensche­n als naiv. Dabei ist es genau umgekehrt: Zyniker sind naiv. Und faul. Denn wer ans Gute glaubt, lehnt sich nicht untätig zurück, sondern kämpft für positive Veränderun­gen. Ich nenne das den neuen Realismus.

Dafür werden Sie von Kritikern als Utopist belächelt.

Bregman: Manche brauchen eben noch ein bisschen länger, um es zu begreifen. Aber im Ernst: Meine Thesen sind tatsächlic­h relativ neu und haben sich noch nicht überall herumgespr­ochen. Erst seit einigen Jahren kommen Wissenscha­ftler aus völlig unterschie­dlichen Diszipline­n zu dem Schluss, dass unser düsteres

Menschenbi­ld reif für eine vollständi­ge Überarbeit­ung ist.

Es stimmt also nicht, was man im Weltbestse­ller „Herr der Fliegen“über die menschlich­e Natur lernt? Bregman: Absolut nicht! Das Buch ist zum ultimative­n Beispiel für die Fassadenth­eorie geworden – der Annahme, dass schon Kinder böse sind und sich wie Tiere verhalten. William Golding, der Autor, war ein depressive­r Alkoholike­r, der seine Kinder schlug und sich nicht darum scherte, wie realistisc­h seine Geschichte war. Bei meinen Recherchen stieß ich auf den wahren Herrn der Fliegen: Ein australisc­her Skipper namens Peter Warner spürte 1966 auf einer Insel im Pazifik sechs Jungen auf. Sie hatten ein Jahr dort gelebt, nachdem sie sich von Tonga aus mit ihrem Boot verfahren hatten. Und so sah der Alltag der 13bis 16-Jährigen aus: Sie legten einen Gemüsegart­en an, unterstütz­ten sich bei Problemen, schlichtet­en erfolgreic­h Streitigke­iten und blieben Freunde. Eine herzerwärm­ende Geschichte.

Warum wurde nicht daraus ein Roman, ein Blockbuste­r?

Bregman: Weil das nicht zu unserem Welt- und Menschenbi­ld passt. Weil uns seit jeher gesagt wird, wie egoisMit wir sind, wenn wir auf uns allein gestellt sind. Das behauptete­n schon die alten Griechen, dann die Christen und auch Aufklärer wie David Hume oder Adam Smith. Aber vielleicht lag es auch daran, dass Hollywood diese Geschichte zu langweilig vorkam, zu gut, und dass Kritiker sie wohl als völlig unrealisti­sch bezeichnet hätten. Wie gesagt: Das Gute verkauft sich oft schlechter als das Böse.

Beim berühmten Stanford-Prison-Experiment kam 1971 das Gegenteil Ihrer Thesen heraus: Brave Studenten entwickelt­en sich als Gefängnisw­ärter zu Monstern, die ihre Gefangenen demütigten.

Bregman: Diese Studie ist eine Fälschung und basiert auf weitreiche­nden Manipulati­onen. Der Forschungs­leiter, der berühmte Psychologe Philip Zimbardo, hatte von Beginn an vor, das Schlimmste aus den Teilnehmer­n hervorzuki­tzeln. Er gab klare Instruktio­nen und setzte seine Studenten unter Druck, sich brutal zu verhalten. Dafür gab es Geld – kein Wunder also, dass sie mitspielte­n. Über die böse menschlich­e Natur sagt das also gar nichts aus. Im Jahr 2001 führte die BBC ein ähnliches Experiment durch, ohne Manipulati­onen. Und siehe da: Wärter und Gefangene verstanden sich prächtig. Doch darüber spricht man heute kaum noch, wohingegen das Stanford-Prison-Experiment noch immer als Beweis für die menschlich­en Abgründe herhalten muss.

Wie beurteilen Sie das menschlich­e Verhalten seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie?

Bregman: Es bestätigt meine These, dass Katastroph­en und Krisen das Beste im Menschen zum Vorschein bringen. Jedem unsozialen Blödmann da draußen stehen tausende Ärzte und Ärztinnen, Reinigungs­kräfte und Pfleger und Pflegerinn­en gegenüber, die sich rund um die Uhr um unser Wohl bemühen. Jedem Hamsterkäu­fer, der panisch Supermarkt­regale in seinen Einkaufswa­gen leert, stehen 10000 Menschen gegenüber, die ihr Bestes geben, um die weitere Ausbreitun­g des Virus zu verhindern. Nichts ist sicher, aber es könnte sein, dass uns diese Krise dabei hilft, dass ein neues Bewusstsei­n für Zusammenge­hörigkeit und Solidaritä­t entsteht.

Angenommen, Menschen sind tatsächlic­h im Grunde gut – warum verhalten sie sich dann so oft entgegen ihrer wahren Natur?

Bregman: Darauf gibt es keine einfache Antwort, da viele Faktoren datisch für verantwort­lich sein können. Die Psychologi­e der Macht oder des Geldes etwa. Wer einen höheren Posten in Aussicht gestellt bekommt, ist eher bereit, gegen seine Kollegen zu agieren. Oft ist es auch der Gruppendru­ck oder eine Form von Loyalität, etwa unter Soldaten.

Wie verhält es sich mit Empathie oder Hilfsberei­tschaft? Angeblich beweist der Zuschauere­ffekt, dass umso weniger Menschen eingreifen, je mehr dabei zusehen.

Bregman: Noch so ein Mythos. Ich habe mich mit der dänischen Sozialpsyc­hologin Marie Lindegaard getroffen. Sie hat als Erste eine Datenbank mit mehr als 1000 Filmen von Überwachun­gskameras aus Kopenhagen, Kapstadt, London und Amsterdam erstellt. Lindegaard untersucht­e all die Prügeleien, Vergewalti­gungen und Mordversuc­he und stellte fest: In 90 Prozent der Fälle kamen Passanten den Opfern zu Hilfe. Es ist im Übrigen kein Zufall, dass eine Frau mit dieser Forschung eine kleine Revolution in der Sozialwiss­enschaft ausgelöst hat.

Wie meinen Sie das?

Bregman: Auffallend viele der Beweise für ein positivere­s Menschenbi­ld haben Frauen geliefert. Sie scheinen nicht so einen zynischen Blick zu haben wie viele ihrer männlichen Kollegen.

Sind Frauen also die besseren Menschen, sind sie ein Sinnbild für das Gute?

Bregman: Ich weiß nicht, ob sie besser sind als Männer. Aber es gibt viele Beweise, dass sie im Durchschni­tt empathisch­er und freundlich­er sind, ob von Natur aus oder durch Erziehung. Interessan­terweise waren aber manche der fortschrit­tlichsten Frauen überhaupt nicht nett, sie kämpften ziemlich grob für ihre feministis­chen Ziele. Und dennoch sollten wir Männer ihnen sehr dankbar sein.

Warum?

Bregman: Je freier die Frauen werden, desto freier werden auch wir. Frauen müssen zum Glück nicht mehr dem Bild entspreche­n, das man ihnen lange Zeit zugeschrie­ben hat. Wir allerdings auch nicht. Also warum noch immer den zynischen, distanzier­ten Typ mimen, wenn es doch auch viel entspannte­r und freundlich­er geht? Ich empfinde es als Befreiung, nicht einer festgelegt­en Rolle entspreche­n zu müssen.

Rutger Bregmann ist Historiker und Journalist. Der 32-Jährige, der in Amsterdam lebt, schreibt unter anderem für die Washington Post und wurde zweimal für den European Press Prize nominiert.

 ?? Foto: Getty Images ?? „Auffallend viele der Beweise für ein positivere­s Menschenbi­ld haben Frauen geliefert“: Rutger Bregman.
Foto: Getty Images „Auffallend viele der Beweise für ein positivere­s Menschenbi­ld haben Frauen geliefert“: Rutger Bregman.

Newspapers in German

Newspapers from Germany