Suizidrate: Anstieg bleibt aus
In Bayern hat sich die Zahl der Suizide seit Beginn der Ausgangsbeschränkungen kaum verändert. Wie Experten das erklären – und warum sie keine Entwarnung geben
Augsburg Besuche bei der Großmutter, Treffen im Café, gemeinsame Sporteinheiten – wie wirkt es sich auf die psychische Gesundheit aus, wenn all diese sozialen Kontakte plötzlich herunter- oder auf null gefahren werden müssen? Als die weitreichenden Ausgangsbeschränkungen am 21. März in Bayern und kurz darauf in ganz Deutschland in Kraft traten, wurden schnell Befürchtungen laut, der Lockdown könne psychische Krankheiten akut verschlimmern und zu einem sprunghaften Anstieg der Suizidrate führen. Die Zahlen aus Bayern, die unserer Redaktion vorliegen, sprechen zumindest mit Blick auf die Suizidrate eine andere Sprache.
Der Statistik des bayerischen Landeskriminalamts zufolge haben sich vom 1. bis zum 23. April 2020 insgesamt 104 Menschen das Leben genommen. Im gleichen Zeitraum 2019 waren es 100 gewesen. Vergleicht man den März dieses Jahres mit dem 2019, ist ein leichter Rückgang festzustellen – von 144 auf 135 vollendete Suizide. Auch in Schwaben ist für die Vergleichszeiträume kein signifikanter Anstieg zu erkennen. Die Zahlen stammen jeweils aus dem Vorgangsbearbeitungssystem der bayerischen Polizei. Die Auswertungen daraus geben jeweils nur den tagesaktuellen Stand zum Zeitpunkt der Erfassung wider und können sich je nach Ermittlungsstand der Polizei verändern. Leichte Schwankungen sind deshalb normal.
Auch ein Blick über die Grenzen
Bayerns hinaus zeigt, dass die Suizidrate seit Beginn der Ausgangsbeschränkungen nicht in die Höhe geschnellt ist. In keinem der Bundesländer, die die Suizidraten in kurzen Zeitabständen erfassen, ist es nach Auskunft der zuständigen Behörden zu auffälligen Anstiegen gekommen. Dies betrifft Thüringen, RheinlandPfalz, Berlin, Saarland, Bremen – und das bevölkerungsreichste Bundesland Deutschlands, NordrheinWestfalen. Dort sank die Zahl der – polizeilich erfassten – versuchten und vollendeten Suizide seit Beginn der Ausgangsbeschränkungen im Vergleich zum Vorjahr sogar um 20 Prozent (von 664 auf 530).
Waren all die Mahnungen also unnötig? So weit möchte Peter Falkai, Medizinischer Direktor der Klinik
für Psychiatrie und Psychotherapie an der Ludwig-MaximiliansUniversität München, nicht gehen. Er habe zwar damit gerechnet, dass die Suizidrate schon bald nach Beginn der Ausgangsbeschränkungen ansteigen würde. Auch wenn das nicht der Fall ist, bedeute das aber nicht, dass sich die Corona-Pandemie nicht trotzdem auf die psychische Gesundheit auswirke. „Zu uns kommen immer mehr Menschen mit depressiven Erkrankungen, Angsterkrankungen und Suchtproblemen“, sagt Falkai. „Das ist eindeutig auf zu viel Stress zurückzuführen. Viele Menschen versuchen, diesen Stress mit Alkohol zu kompensieren. Die Leute haben Angst.“Dafür, dass die Suizidrate noch nicht bemerkbar angestiegen ist, hat Falkai mehrere Erklärungsansätze. Da ist etwa das Wetter, das über längere Zeit hinweg sehr frühlingshaft war: „Licht, Wärme und die Möglichkeit, die vier Wände zu verlassen, spielen eine große Rolle für das Wohlbefinden“, sagt der Facharzt. Diese Faktoren seien im ersten Monat nach den Ausgangsbeschränkungen „beinahe optimal“gewesen.
Ein weiterer Grund könne in einer Art „Notfallmodus“liegen: „Möglicherweise sagen sich jetzt viele Menschen: ,Es geht uns allen schlecht, jetzt muss ich stark sein.‘“Dieses Muster sei aus früheren Krisen wie der Finanzkrise 2008 oder auch Kriegen bekannt. Die Erfahrungen zeigten aber auch: „Erst nach der Krise, wenn wieder ein Stück weit Normalität eingetreten ist, werden die Schäden in vollem Umfang sichtbar. Menschen werden arbeitslos, geraten in wirtschaftliche Schieflage. Das verstärkt Ängste – und das Risiko, dass die Suizidrate ansteigt.“Er könne sich vorstellen, dass ein solches Szenario in den kommenden drei Monaten bevorstehe.
Auch Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, äußert sich angesichts der Zahlen zurückhaltend. Sie seien eine grobe Orientierung, jedoch erwarte er infolge der Corona-Krise eine Zunahme der Suizide und Suizidversuche für die Monate April und
Mai. „Viele stationäre und ambulante Versorgungsangebote sind zurückgefahren worden, und Betroffene haben ihre Termine bei Ärzten und Psychotherapeuten abgesagt“, erklärt Hegerl. Die Chance, dass Angehörige eine Suizidgefährdung erkennen würden, sei aktuell geringer. Groß sei dagegen das Risiko, „dass Patienten mit Suchtgefährdung nun durch Homeoffice oder Wegfall der stützenden Arbeit ihrer Sucht verfallen und suizidal werden“. Ohne Monatszahlen bis inklusive Juni müsse man mit Interpretationen vorsichtig sein.
Laut Hegerl liegt das Verhältnis zwischen versuchten und vollendeten Suiziden bei 20:1. „Wenn deshalb durch Rückzug in die eigenen vier Wände weniger tödliche Methoden gewählt werden, kann es zu mehr Suizidversuchen und gleichzeitig zu einer Abnahme der Suizide kommen“, erklärt er. Auch müsse man von einer hohen Dunkelziffer ausgehen. Die Politik sieht Hegerl vor der Aufgabe, zwischen Schutzmaßnahmen und deren Auswirkungen abzuwägen. So nehme etwa die Versorgungsqualität für Menschen mit psychischen Erkrankungen ab. „Das Ziel der Maßnahmen ist ja nicht die Vermeidung von CoronaInfektionen und -Todesfällen an sich, sondern die Verlangsamung des Infektionsgeschehens, um zusätzliches Leid und Tod zu vermeiden, das durch eine Überforderung der intensivmedizinischen Versorgung entsteht“, sagt Hegerl. „Eine ernsthafte Diskussion dieser Abwägungsaufgabe findet nicht statt.“
Erst nach der Krise wird das volle Ausmaß sichtbar