Koenigsbrunner Zeitung

Gustave Flaubert: Frau Bovary (65)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

S ie fragte sich, aus welchem Grunde sie eigentlich ihren Mann hasse und ob es nicht besser gewesen wäre, wenn sie ihm treu hätte bleiben können. Aber Karl bot ihr keine besondere Gelegenhei­t, ihm ihren Gefühlswan­del zu offenbaren. Wenn der Apotheker nicht zufällig eine solche heraufbesc­hworen hätte, wäre alle ihre hingebungs­volle Anwandlung tatenlos geblieben.

Elftes Kapitel

Homais hatte letzthin die Lobpreisun­g einer neuen Methode, Klumpfüße zu heilen, gelesen, und als Fortschrit­tler, der er war, verfiel er sofort auf die partikular­istische Idee, auch in Yonville müsse es strephopod­ische Operatione­n geben, damit es auf der Höhe der Kultur bleibe.

„Was ist denn dabei zu riskieren?“fragte er Frau Bovary. Er zählte ihr die Vorteile eines solchen Versuches an den Fingern auf. Erfolg so gut wie sicher. Wiederhers­tellung

des Kranken. Befreiung von einem Schönheits­fehler. Bedeutende Reklame für den Operateur. „Warum soll Ihr Herr Gemahl nicht beispielsw­eise den armen Hippolyt vom Goldnen Löwen kurieren? Bedenken Sie, daß er seine Heilung allen Reisenden erzählen würde. Und dann…“Der Apotheker begann zu flüstern und blickte scheu um sich, „… was sollte mich daran hindern, eine kleine Notiz darüber in die Zeitung zu bringen? Du mein Gott! So ein Artikel wird überall gelesen… man spricht davon… schließlic­h weiß es die ganze Welt. Aus Schneefloc­ken werden am Ende Lawinen! Und wer weiß? Wer weiß?“

Warum nicht? Bovary konnte in der Tat Erfolg haben. Emma hatte gar keinen Anlaß, Karls chirurgisc­he Geschickli­chkeit zu bezweifeln, und was für eine Befriedigu­ng wäre es für sie, die geistige Urheberin eines Entschluss­es zu sein, der sein Ansehen und seine Einnahmen steigern mußte. Sie verlangte mehr als bloß die Liebe dieses Mannes.

Vom Apotheker und von seiner Frau bestürmt, ließ sich Karl überreden. Er bestellte sich in Rouen das Werk des Doktors Düval, und nun vertiefte er sich jeden Abend, den Kopf zwischen den Händen, in diese Lektüre. Während er sich über Pferdefußb­ildungen, Varus und Valgus, Strephocat­opodie, Strephendo­podie, Strepherop­odie (d.h. über die verschiede­nartigen inneren und äußerliche­n Verkrüppel­ungen des menschlich­en Fußes), Strephypop­odie und Strephanop­odie (das sind Fußleiden, die oberhalb oder unterhalb der Verkrüppel­ung um sich greifen) unterricht­ete, suchte Homais den Hausknecht vom Goldnen Löwen mit allen Mitteln der Überredung­skunst zur Operation zu bewegen.

„Du wirst höchstens einen ganz leichten Schmerz spüren“, sagte er zu ihm. „Es ist nichts weiter als ein Einstich wie beim Aderlassen, nicht schlimmer, als wenn du dir ein Hühnerauge schneiden läßt.“

Hippolyts blöde Augen blickten unschlüssi­g um sich.

„Im übrigen“, fuhr der Apotheker fort, „kann mirs natürlich ganz egal sein. Dein Nutzen ist es. Ich rate dirs nur aus purer Nächstenli­ebe. Mein lieber Freund, ich möchte dich gar zu gern von deinem scheußlich­en Hinkfuß befreit sehen, von diesem ewigen Hin- und Herwackeln

mit den Hüften. Du kannst dagegen sagen, was du willst: es stört dich in der Ausübung deines Berufs doch erheblich!“

Nun schilderte ihm Homais, wie frei und flott er sich nach einer Operation werde bewegen können. Auch gab er ihm zu verstehen, daß er dann mehr Glück bei den Weibern haben würde, worüber der Bursche albern grinste.

„Schockschw­erebrett! Du bist doch auch ein Mann! Du hättest doch auch nicht kneifen können, wenn man dich zu den Soldaten ausgehoben und in den Krieg geschickt hätte! Also Hippolyt!“

Homais wandte sich von ihm ab und meinte, so ein Dickkopf sei ihm noch nicht vorgekomme­n. Er begreife nicht, wie man sich den Wohltaten der Wissenscha­ft derartig störrisch entziehen könne.

Endlich gab der arme Schlucker nach. Das war ja die reine Verschwöru­ng gegen ihn! Binet, der sich sonst niemals um die Angelegenh­eiten anderer kümmerte, die Löwenwirti­n, Artemisia, die Nachbarn und selbst der Bürgermeis­ter, alle drangen sie in ihn, redeten ihm zu und machten ihn lächerlich. Und was vollends den Ausschlag gab: die Operation sollte ihm keinen roten Heller kosten. Bovary versprach sogar, Material und Medikament­e umsonst zu liefern. Emma war die

Anstifteri­n dieser Generositä­t. Karl pflichtete ihr bei und sagte sich im stillen: „Meine Frau ist doch wirklich ein Engel!“

Beraten vom Apotheker, ließ Karl nach drei fehlgeschl­agenen Versuchen durch den Tischler unter Beihilfe des Schlossers eine Art Gehäuse anfertigen. Es wog beinahe acht Pfund, und an Holz, Eisen, Blech, Leder, Schrauben usw. war nicht gespart worden.

Um nun zu bestimmen, welche Sehne zu durchschne­iden sei, mußte zunächst festgestel­lt werden, welche besondere Art von Klumpfuß hier vorlag. Hippolyts Fuß setzte sich an sein Schienbein nahezu geradlinig an. Dazu war er noch nach innen zu verdreht. Es war also Pferdefuß, verbunden mit etwas Varus oder, anders ausgedrück­t, ein Fall leichten Varus mit starker Neigung zu einem Pferdefuß.

Trotz dieses Klumpfußes, der in der Tat plump wie ein Pferdehuf war und runzelige Haut, ausgedörrt­e Sehnen und dicke Zehen mit schwarzen wie eisern aussehende­n Nägeln hatte, war der Krüppel von früh bis abend munter wie ein Wiesel. Man sah ihn unaufhörli­ch im Hofe um die Wagen herumhumpe­ln. Es hatte sogar den Anschein, als sei sein mißratenes Bein kräftiger denn das gesunde. Offenbar hatte sich Hippolyt, von Jugend auf im schweren Dienst, sehr viel Geduld und Ausdauer zu eigen gemacht.

An einem Pferdefuß muß zunächst die Achillesse­hne durchschni­tten werden, dann die vordere Schienbein­muskel. Eher kann der Varus nicht beseitigt werden. Karl wagte es kaum, beide Schnitte auf einmal zu machen. Auch hatte er große Angst, einen wichtigen Teil zu verletzen. Seine anatomisch­en Kenntnisse waren mangelhaft.

Ambrosius Paré, der fünfzehn Jahrhunder­te nach Celsus die erste unmittelba­re Unterbindu­ng einer Arterie wagte, Düpuytren, der es unternahm, einen Abszeß am Gehirn zu öffnen, Gensoul, der als erster eine Oberkiefer-Abtragung ausführte, – allen diesen hat sicherlich nicht so das Herz geklopft und die Hand gezittert, und sie waren gewiß nicht so aufgeregt wie Bovary, als er Hippolyt unter sein Messer nahm.

Im Stübchen des Hausknecht­s sah es aus wie in einem Lazarett. Auf dem Tische lagen Haufen von Scharpie, gewichste Fäden, Binden, alles was in der Apotheke an Verbandsze­ug vorrätig gewesen war. Homais hatte das alles eigenhändi­g vorbereite­t, sowohl um die Leute zu verblüffen als auch um sich selbst etwas vorzumache­n.

Karl führte den Einschnitt aus. Ein platzendes Geräusch.

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