Urlaub erlaubt
Seit Jahren kommen immer mehr Gäste ins Allgäu, seit Jahren immer neue Rekorde. Bis Corona die Branche zum Stillstand brachte. Jetzt sind die Betriebe froh, dass sie zu Pfingsten wieder aufmachen dürfen. Nur: Wie normal kann Urlaub in diesem Jahr überhaup
Oberstdorf/Hopfen am See Petra Wagner aus dem Oberallgäuer Durach pflanzt im Garten ihres Hauses bunte Blumen in Töpfe: Demnächst wird ihr Mann Gerhard die roten Geranien und weißen Elfenspiegel ins Auto laden und zur Hütte „Sonthofer Hof“bringen. Auf der 1147 Meter hoch gelegenen Alpe in den Oberallgäuer Bergen bewirten die Wagners im Sommer Ausflügler, Wanderer und Mountainbiker. Eigentlich wäre die Saison dort oben schon angelaufen. Jetzt soll es am 18. Mai losgehen – wenn Gastronomen in Bayern ihre Gäste wieder im Freien bewirten dürfen. „Es ist wichtig, dass wir jetzt eine Perspektive haben“, sagt Petra Wagner mit Blick auf die letzten Wochen, „in denen wir nichts planen konnten.“
Diese letzten acht Wochen, sie waren nicht nur für die Wagners schwierig. Acht Wochen, in denen der Tourismus im Allgäu zum Erliegen gekommen ist.
Wer verstehen will, wie empfindlich der Corona-Stillstand die Region getroffen hat, muss sich nur die nackten Zahlen vor Augen führen. Mehr als vier Millionen Gäste kamen 2019 ins Allgäu – so viele wie noch nie in der Tourismusgeschichte der Region. Seit Jahren kennt die Statistik nur eine Richtung – steil nach oben. Allein in den letzten zehn Jahren haben 63 Prozent mehr Menschen Urlaub zwischen Bodensee und Königsschlössern gemacht.
Eine stolze Tourismusbilanz, die die Allgäu GmbH vorgelegt hat. Mitte Februar war das. Da konnte noch niemand ahnen, dass einen Monat später Hotels schließen, Restaurants zusperren und Bergbahnen den Betrieb einstellen müssen. Wie groß der dadurch entstandene Schaden ist, kann keiner genau sagen. Aber: Wenn die Allgäuer Tourismusbranche in normalen Jahren 3,5 Milliarden Euro Umsatz macht, sind das an jedem Schließungstag zehn Millionen Euro, die fehlen.
Sehnsüchtig hat man hier auf das gewartet, was Ministerpräsident Markus Söder am Dienstag ankündigte: Dass nach der Außengastronomie auch Hotels bald wieder öffnen dürfen – am 30. Mai, rechtzeitig zum Start der Pfingstferien.
Gabi Braxmair wird noch ein paar Tage länger warten. Die Schwester von Petra Wagner bewirtschaftet mit ihrer Familie die Kemptner Hütte am Allgäuer Hauptkamm, das größte Unterkunftshaus des Deutschen Alpenvereins im Allgäu. Mit dem Tagesbetrieb will die Familie auf jeden Fall am 5. Juni starten. Doch was Übernachtungen betrifft, fehlt die Perspektive. Denn bislang ist ungeklärt, ob und unter welchen Auflagen DAV-Hütten Übernachtungsgäste beherbergen dürfen. In normalen Bergsommern zählen sie bis zu 26 000 Menschen auf der 1846 Meter hoch gelegenen Hütte. In diesem Jahr müssen die Braxmairs damit rechnen, dass deutlich weniger kommen werden.
An sich, glaubt Tourismusforscher Harald Pechlaner von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, könnten die Hütten in diesem Jahr gute Karten haben. Ebenso wie Ferienwohnungen, Urlaub auf dem Bauernhof und Pensionen gefragt sein dürften. „Die Menschen werden nach interessanten Möglichkeiten im ländlichen Raum suchen. Und sie werden Angebote suche, wo man mehr Autonomie hat.“Also lieber mit dem Auto in die Ferien statt mit dem Flugzeug, lieber Berge und Seen statt Städtetrips.
Wer sich zu dieser Jahreszeit auf den Weg nach Hopfen am See macht, dem Ort nahe Füssen, den man auch die Allgäuer Riviera nennt, findet eine einzigartige Idylle vor. Hinter dem blauen See erheben sich die noch verschneiten Ostallgäuer Berge: Tegelberg, BreitenSäuling. Zu normalen Zeiten wären viele Urlauber auf der Promenade unterwegs. Doch an diesem sonnigen Tag ist es recht leer.
Andreas Eggensberger betreibt das Biohotel Eggensberger im Ort – ein Vier-Sterne-Haus mit 100 Hotelund 24 Reha-Klinikbetten. Jetzt, um die Mittagszeit, streicht er die Holzstühle und -tische auf der Terrasse mit einem speziellen BioPflegeöl ein. Wie er die vergangenen Wochen erlebt hat, so ganz ohne Hotelbetrieb? Eigentlich sei es ihm nie langweilig geworden, sagt Eggensberger. Weil man viel erledigt und das, was ohnehin an Arbeiten anstand, vorgezogen hat. Zum Glück, sagt er, waren die Handwerker schnell zu bekommen. Aber natürlich, räumt er ein, auch die Sorgen hätten mit jedem Tag zugenommen. Für sein Haus summiere sich der Umsatzausfall durch die Corona-Krise auf 900000 Euro, hat er ausgerechnet. Umso wichtiger also, dass es bald wieder losgeht.
Dabei gibt es viele Fragen, die die Touristiker in diesen Tagen im Allgäu beschäftigen – egal ob auf dem Berg oder im Tal: Wie viele Gäste werden nach Inkrafttreten der Lockerungen kommen? Haben die Menschen überhaupt Lust auf Urlaub mit Mundschutz, ohne Buffet und mit stark eingeschränktem Wellness-Angebot? Wie vielen ist angesichts von Kurzarbeit und Sorge um den eigenen Job die Lust auf eine Reise vergangen? „Wir wissen nicht, wie sich das entwickelt und wofür die Menschen künftig ihr Geld einsetzen“, hat Klaus Holetschek, Vorsitzender des Tourismusverbands Allgäu/Bayerisch-Schwaben, zuletzt gesagt.
Andererseits könnte es für das
Allgäu von Vorteil sein, dass Auslandsreisen so schnell nicht möglich sein dürften. Tourismusforscher Pechlaner sagt: „Der DeutschlandTourismus wird davon ohne Zweifel stark profitieren.“Der Bad Hindelanger Kurdirektor Maximilian Hillmeier wiederum glaubt, dass die Menschen nach der langen Zeit zu Hause endlich raus wollen in die Natur. „Das können wir ihnen hier im Allgäu bieten.“Auch Bernhard Joachim, Geschäftsführer der Allgäu GmbH, ist überzeugt, dass in diesem Jahr Inlands-Destinationen stark gefragt sein werden. „Und da sind wir ganz vorne mit dabei.“
So sicher ist sich Jürgen Schmude da nicht. Weil der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Tourismuswissenschaft zwar glaubt, dass so mancher in diesem Jahr auf Heimaturlaub umschwenkt. „Allerdings wird es auch einen erheblichen Anteil an potenziellen Touristen geben, die sagen: Einen Urlaub mit Abstandsregelungen und Plastiktrennwänden beim Essen wollen wir nicht. Viele Menschen verbringen ihre Freizeit dann doch lieber auf dem eigenen Balkon.“Wobei er einräumt: Es würde ohnehin nicht klappen, wenn alle in diesem Jahr den Deutschland-Urlaub für sich entdecken. Dafür gäbe es die Kapazitäten, sprich die Betten, gar nicht – auch nicht im Allgäu. „Mehr als 60 Prozent der Deutschen verbringen ihren Haupturlaub normalerweise im Ausland – alle von ihnen könnten wir gar nicht beherbergen.“
In den Allgäuer Touristikbetrieben jedenfalls macht sich seit einigen Tagen vorsichtiger Optimismus breit, berichtet Simone Zehnpfennig von der Allgäu GmbH und verweist auf eine aktuelle Umfrage bei Überberg, nachtungsbetrieben. Demnach gehen bei Hotels und Pensionen von Tag zu Tag mehr Buchungen ein, seit die Politik Klarheit geschaffen hat. Sybille Wiedenmann klingt dagegen fast schon überschwänglich. „Wir feiern die Öffnung“, sagt die Geschäftsführerin der Kooperation Allgäu Top Hotels, einem Zusammenschluss, der 80 Häuser im gehobenen Segment vertritt.
Zuversicht und Optimismus, das brauchen die Betriebe nach den vergangenen Wochen auch dringend. Zwischen 10000 und 25000 Euro Fixkosten bleiben den Hotels nach Wiedenmanns Worten pro ausgefallenem Betriebstag. So etwas sei nicht unendlich lange durchzuhalten. Entsprechend fordert die Branche Hilfe von der Politik. Die Allgäu Top Hotels sprechen sich in einem offenen Brief für Corona-Finanzhilfen nach österreichischen Vorbild aus. In der Alpenrepublik werden 25 bis 75 Prozent der Kredite nach gewissen Kriterien in Zuschüsse umgewandelt.
Man muss zu normalen Zeiten nicht in der Schlange vor Schloss Neuschwanstein stehen oder sich an einem schönen Sommertag mit all den anderen am Tegelberg drängen, um zu verstehen: Der Tourismus ist im Allgäu Wirtschaftsfaktor Nummer eins. 60000 Arbeitsplätze zwischen Bodensee und Königsschlössern hängen direkt oder indirekt daran, sagt Wiedenmann. Ihre Mitgliedsbetriebe wollten die Krise mit Zuversicht und unternehmerischer Kreativität meistern, sagt sie mit Entschlossenheit.
Wobei die Corona-Krise längst nicht nur die Hotels trifft. Selbst eine kleine Alpinschule muss umdenken. Die Bergschule Oberallgäu in Burgberg ist in erster Linie auf die beliebte Alpenüberquerung von Oberstdorf nach Meran spezialisiert. Ob und wann diese Route mit Gruppen und Hüttenübernachtungen in Deutschland, Österreich und Südtirol wieder möglich sein wird, ist derzeit völlig unklar. Bernd Zehetleitner, 49, staatlich geprüfter Bergführer, hat eine Alternative ausgearbeitet: eine fünftägige Wandertour von Oberstaufen nach Oberstdorf mit verschiedenen Hotel-Stützpunkten im Tal. „Denn momentan wollen manche Bergsportler gar nicht in Alpenvereinshütten übernachten, selbst wenn sie geöffnet wären“, glaubt er. Tourismuswissenschaftler Pechlaner sagt, dieses Umdenken wird noch länger nötig sein. „Wir kommen nicht so schnell wieder dorthin zurück, wo wir waren.“
Das wird selbst auf Schloss Neuschwanstein deutlich, dem Ort, der bei vielen Allgäu-Urlaubern nicht fehlen darf. Nach dem Beschluss der
Urlaub mit Mundschutz – passt das zusammen?
Nur noch in einer Richtung durch die Breitachklamm
Bayerischen Staatsregierung dürfen Einrichtungen der Bayerischen Schlösserverwaltung voraussichtlich am 30. Mai öffnen. Für welche Objekte das zutrifft, ist aber noch nicht bekannt. Man arbeite derzeit an Hygieneund Besucherkonzepten, sagt Franziska Wimberger von der Schlösserverwaltung. Vor allem gehe es darum, „Nadelöhre“so zu gestalten, dass die Besucher die vorgeschriebenen Abstände einhalten können. Ein Problem, das man auch anderswo kennt. In Oberstdorf denkt man gerade darüber nach, die Besucher nur noch in eine Richtung durch die Breitachklamm wandern zu lassen. Die Kurbetriebe überlegen, eine Laufrichtung auf Wanderwegen vorzugeben. Und was ist mit den Bergbahnen, die der Bad Hindelanger Kurdirektor Hillmeier „das Rückgrat des Tourismus“nennt? Wie viele Fahrgäste kann man in eine Kabine lassen und zugleich den nötigen Abstand wahren?
Beim Reisen, sagt Experte Pechlaner, geht es stets auch ums Wohlfühlen. Darum, sich unbeschwert zu fühlen, frei, aber auch sicher. Das könnte beim Urlaub in diesem Jahr die größte Herausforderung sein.