Koenigsbrunner Zeitung

Das einsame Gedenken

Deutschlan­d erinnert an die Befreiung von der nationalso­zialistisc­hen Gewaltherr­schaft vor 75 Jahren. Das Coronaviru­s zwingt die Politik zu einem Staatsakt der besonderen Art

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Berlin Vertreter von Staat, Wirtschaft und Gesellscha­ft, Jugendlich­e aus aller Welt – insgesamt 1600 Gäste, versammelt vor dem Reichstags­gebäude zu einem Staatsakt. So hatte sich Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier den 8. Mai, das Erinnern an das Ende von Krieg und nationalso­zialistisc­hem Terror, vorgestell­t. Dann kam die Corona-Krise. Am Ende wird es ein fast schon einsames Gedenken der fünf höchsten Repräsenta­nten des deutschen Staates. Deutschlan­d müsse an diesem Tag allein gedenken, sagt Steinmeier später. „Aber: Wir sind nicht allein! Das ist die glückliche Botschaft des heutigen Tages!“

Um 12 Uhr fahren die gepanzerte­n Wagen vor der Neuen Wache am Boulevard Unter den Linden in Berlin vor. Die zentrale Gedenkstät­te der Bundesrepu­blik für die Opfer von Krieg und Gewaltherr­schaft ist weiträumig abgesperrt. Die aus den Limousinen zuerst aussteigen­den Sicherheit­sbeamten tragen Mundschutz, nicht so der Bundespräs­ident, Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sowie die Präsidente­n von Bundestag, Bundesrat und Bundesverf­assungsger­icht, Wolfgang Schäuble (CDU), Dietmar Woidke (SPD) und Andreas Voßkuhle.

Vor der Plastik „Mutter mit totem Sohn“von Käthe Kollwitz liegen bereits fünf Kränze. Auf dem menschenle­eren Platz davor steht das Rednerpult, an das Steinmeier schließlic­h tritt.

„Liebe Mitbürgeri­nnen und Mitbürger, liebe Freunde in Europa, liebe Partner und Verbündete rund um die Welt“– so beginnt Steinmeier. Es schmerzt ihn sichtlich, dass die Angesproch­enen so fern sind. „Wir Deutsche begehen den Tag unter uns, und das ist notwendig“, sagte Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Rede vom 8. Mai 1985. Steinmeier knüpft bewusst an von Weizsäcker an, zitiert dessen Satz vom „Tag der Befreiung“und befindet, man müsse diesen heute „neu und anders lesen“. „Damals war dieser Satz ein Meilenstei­n im Ringen mit unserer Vergangenh­eit. Heute aber muss er sich an unsere Zukunft richten. ,Befreiung‘ ist nämlich niemals abgeschlos­sen, und sie ist nichts, was wir nur passiv erfahren, sondern sie fordert uns aktiv, jeden Tag aufs Neue.“

Schon bei den Gedenkvera­nstaltunge­n im Januar in Israel und Polen zur Befreiung des deutschen Konzentrat­ionslagers Auschwitz hatte er deutlich gemacht, dass es gilt, aus der Vergangenh­eit die richtigen Lehren für die Zukunft zu ziehen.

Dies sind für ihn im Wesentlich­en drei: Es darf keinen Schlussstr­ich unter das Erinnern an die Verbrechen und die Opfer geben. Deutschlan­d trägt eine besondere Verantwort­ung für den Zusammenha­lt Europas. Und: Die Demokraten dieses Landes müssen entschiede­n gegen die Rückkehr von Hass, Gewalt und neuem Nationalis­mus kämpfen.

Vor der Neuen Wache in Berlin hört sich das so an: „Wer einen Schlussstr­ich fordert, der verdrängt nicht nur die Katastroph­e von Krieg und NS-Diktatur. Der entwertet auch all das Gute, das wir seither errungen haben – der verleugnet sogar den Wesenskern unserer Demokratie.“Deutschlan­ds Einsatz für Europa muss sich für Steinmeier auch in der Corona-Krise bewähren: „Wenn wir Europa, auch in und nach dieser Pandemie, nicht zusammenha­lten, dann erweisen wir uns des 8. Mai nicht als würdig.“

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Foto: Hanschke, dpa Steinmeier bei seiner Rede vor kleinem Publikum.

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