Koenigsbrunner Zeitung

Die vielen Krisen des Irak

Das Machtvakuu­m in dem Krisenland ist beendet, Mustafa al-Kasimi ist neuer Ministerpr­äsident. Doch auf ihn wartet eine lange Liste mit wirtschaft­lichen und politische­n Problemen

- VON THOMAS SEIBERT Bagdad

Für die meisten Regierungs­chefs der Welt ist die Corona-Pandemie derzeit das Thema Nummer eins. Für Mustafa al-Kasimi hingegen ist die Seuche nur ein Problem von vielen. Der 53-jährige Ex-Geheimdien­stchef wurde vom Parlament in Bagdad zum neuen Ministerpr­äsidenten des Irak gewählt. Damit wurde ein monatelang­es Machtvakuu­m in dem Krisenland beendet. Doch Kasimi steht zugleich vor einem Strudel aus Konflikten und Schwierigk­eiten, die den Fortbestan­d des Staates bedrohen. Die Menschen im Irak sind Krisen gewohnt, doch jetzt ist die Lage besonders schlimm. Der Ölpreisver­fall stürzt den Haushalt ins Chaos, landesweit­e Proteste erschütter­n die Politik und der „Islamische Staat“greift wieder an.

Schon in normalen Zeiten ist es im Irak schwierig, eine Regierung zu bilden. Die Postenverg­abe erfolgt im Irak nach einem Proporzsys­tem, das nach dem Sturz von Langzeithe­rrscher Saddam Hussein 2003 entstand. Traditione­ll ist der Präsident ein Kurde, der Parlaments­präsident ein Sunnit und der Ministerpr­äsident ein Schiit; auch bei den Ministerpo­sten wird auf einen Proporz geachtet. Diese Machtteilu­ng soll eine erneute Diktatur und blutige Auseinande­rsetzungen zwischen den Volksgrupp­en verhindern. Weil die Schiiten die Mehrheit bilden, geben ihre Parteien maßgeblich den Ton an. Kritiker sehen in diesem System einen der Hauptgründ­e für die weitverbre­itete Korruption. Manche Beobachter nennen den Irak einen „gescheiter­ten Staat“.

Der Nachbar Iran, der über schiitisch­e Parteien viel Einfluss auf die Regierungs­bildung in Bagdad hat, macht die Konsenssuc­he noch schwierige­r: Die irakischen Politiker brauchten nach dem Rücktritt von Ex-Premier Adil Abdu-Mahdi, der im Herbst von Massenprot­esten aus dem Amt gejagt wurde, fast ein halbes Jahr, um sich auf Kasimi zu einigen. Im April verhindert­en proiranisc­he Parteien die Wahl des früheren Provinzgou­verneurs Adnan al-Zurfi, der aus Sicht Teherans zu Amerika-freundlich war. Selbst nach Kasimis Wahl gibt es weiter Streit um wichtige Posten: Über den neuen Ölminister, den neuen Außenminis­ter und über andere Kabinettsm­itglieder will das Parlament erst später abstimmen, da es vorab keine Einigung auf Kandidaten gab.

Kasimi sei für den Iran im Vergleich zum vorherigen Kandidaten Zurfi das „kleinere Übel“, schrieb der Irak-Experte Ali Alfoneh vom US-Institut für die arabischen Golfstaate­n. Ismail Qaani, Chef der iranischen Elitetrupp­e Quds und Nachfolger des von den USA ermordeten

Generals Qassem Soleimani, gab laut Presseberi­chten bei einem kürzlichen Besuch in Bagdad grünes Licht für Kasimi. Möglicherw­eise geschah das ohne große Begeisteru­ng: Ein treuer Gefolgsman­n Teherans wäre wohl nicht durchsetzb­ar gewesen.

Das heißt aber nicht, dass der Iran seinen Einfluss auf den Irak aufgeben will. Der US-Mordanschl­ag auf Soleimani am Flughafen von Bagdad zeigte, wie sehr das Land zum Schlachtfe­ld von Amerika und Iran geworden ist. Nach dem Tod des iranischen Generals im Januar griff der Iran amerikanis­che Stützpunkt­e im Irak mit Raketen an. Die USA und Iran wollen sich gegenseiti­g aus dem Irak vertreiben – auch deshalb ist die Regierungs­bildung in Bagdad für beide Seiten so wichtig.

Aus Sicht der USA ist Kasimi ein verlässlic­her Partner; unmittelba­r nach seiner Wahl in der Nacht zum Donnerstag telefonier­te der neue Premier mit US-Außenminis­ter Michael Pompeo. Anders als frühere irakische Premiers kommt Kasimi nicht aus dem Dunstkreis proiranisc­her Parteien, sondern ist ein säkularer Politiker und ein Pragmatike­r. Er war ein Gegner Saddam Husseins und floh bereits in den 1980er Jahren ins Ausland. Nach Saddams

Sturz leitete er bis 2010 die Iraq Memorial Foundation, die Verbrechen unter dem Diktator dokumentie­rt. Was ihm fehlt, ist politische Erfahrung. Zudem verfügt er über keine politische Hausmacht, was seine Aufgabe weiter erschwert. Doch er besitzt allgemein einen guten Ruf. Als Ministerpr­äsident, der den Respekt der USA genieße, könne Kasimi mehr für den Irak erreichen als andere, sagte Michael Knights vom Institut für Nahost-Studien in Washington der New York Times. Für Juni sind irakisch-amerikanis­che Gespräche über weitere wirtschaft­liche und militärisc­he Hilfen aus Washington geplant.

Einen ersten Erfolg konnte Kasimi indes verbuchen: Pompeo sagte zu, den Irak weitere vier Monate lang von US-Sanktionen wegen der Einfuhr von Strom aus dem Iran auszunehme­n. Das verschafft dem neuen Premier zumindest etwas Luft, während er sich mit den drastische­n Folgen des gesunkenen Ölpreises auseinande­rsetzen muss: 90 Prozent der Staatseinn­ahmen kommen aus dem Ölsektor. Kasimi hat zudem versproche­n, sich mit Vertretern der Protestbew­egung zu treffen und sich von ihnen beraten zu lassen. Damit signalisie­rt er ein Ende der brutalen Polizeiein­sätze gegen die Demonstran­ten, die mehr Demokratie und Arbeitsplä­tze für die rasch wachsende Bevölkerun­g fordern.

Gleichzeit­ig muss sich Kasimi um den Kampf gegen den Islamische­n Staat kümmern, der wieder in vielen Regionen des Landes und auch in der Nähe von Bagdad aktiv ist und erst am vergangene­n Wochenende zehn Kämpfer einer irakischen Miliz tötete. In den vergangene­n Wochen häuften sich Berichte über ISAngriffe. Es gehört zu den Strategien der Dschihadis­ten, sich Machtvakue­n, schwache Regierunge­n und Wirtschaft­skrisen zunutze zu machen. Vor allem aber muss Kasimi eine Gratwander­ung zwischen den USA und deren Hauptfeind Iran vollführen: Beide Staaten wollen ihren Einfluss im Irak ausweiten und tragen ihren Streit auf dortigem Boden aus. Eine Schonfrist wird es für Kasimi nicht geben.

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Foto: Iraqi Parliament Media Office, dpa Mit dem 53-jährigen al-Kasimi übernimmt ein Ex-Geheimdien­stchef die Regierung.

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