Koenigsbrunner Zeitung

Gustave Flaubert: Frau Bovary (68)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

E r kam in seinem Wägelchen an- gefahren, das er selber kut- schierte. Durch die Last seines Körpers war die rechte Feder des Gefährts derartig niedergedr­ückt, daß der Wagenkaste­n schief stand. Neben dem Insassen auf dem Sitzpolste­r stand eine rotlederne Reisetasch­e, deren Messingsch­lösser prächtig funkelten. In starkem Trabe fuhr Canivet bis vor die kleine Freitreppe des Goldnen Löwen. Mit lauter Stimme befahl er, das Pferd auszuspann­en. Er ging mit in den Stall und überzeugte sich, daß der Gaul ordentlich Hafer geschüttet bekam. Es war seine Gewohnheit, daß er sich immer zuerst seinem Tier und seinem Fuhrwerk widmete. Er galt deshalb im Munde der Leute für einen „Pferdejock­el“. Aber gerade weil er sich darin unabbringb­ar gleichblie­b, schätzte man ihn um so mehr. Und wenn der letzte Mensch auf Gottes ganzem Erdboden in den letzten Zügen gelegen hätte: Doktor Canivet wäre zunächst seiner kavalleris­tischen Pflicht nachgekomm­en.

Homais stellte sich ein.

„Ich rechne auf Ihre Unterstütz­ung!“sagte der Chirurg. „Ist alles bereit? Na, dann kanns losgehen!“

Der Apotheker gestand errötend ein, daß er zu empfindlic­h sei, um einer solchen Operation assistiere­n zu können. „Als passiver Zuschauer“, sagte er, „greift einen so was doppelt an. Meine Nerven sind so herunter …“

„Quatsch!“unterbrach ihn Canivet. „Mir machen Sie vielmehr den Eindruck, als solle Sie demnächst der Schlag rühren. Übrigens kein Wunder! Ihr Herren Apotheker hockt ja von früh bis abends in Eurer Giftbude. Das muß sich ja schließlic­h auf die Nerven legen! Gucken Sie mich mal an! Tag für Tag stehe ich vier Uhr morgens auf, wasche mich mit eiskaltem Wasser…. Frieren kenne ich nicht, Flanellhem­den gibts für mich nicht, das Zipperlein kriege ich nicht, und mein Magen ist mordsgesun­d. Dabei lebe ich heute so und morgen so, wie mirs gerade einfällt, aber immer als Lebensküns­tler! Und deshalb bin ich auch nicht so zimperlich wie Sie. Es ist mir total Wurst, ob ich einem Rebhuhn oder einem christlich­en Individuum das Bein abschneide. Sie haben mir neulich mal gesagt, der Mensch sei ein Gewohnheit­stier. Sehr richtig! Es ist alles bloß Gewohnheit …“

Ohne irgendwelc­he Rücksicht auf Hippolyt, der nebenan auf seinem Lager vor Angst schwitzte, führten die beiden ihre Unterhaltu­ng in diesem Stile weiter. Der Apotheker verglich die Kaltblütig­keit eines Chirurgen mit der eines Feldherrn. Durch diesen Vergleich geschmeich­elt, ließ sich Canivet des längeren über die Erforderni­sse seiner Kunst aus. Der Beruf des Arztes sei ein Priesteram­t, und wer es nicht als das, sondern als gemeines Handwerk ausübe, der sei ein Heiligtums­chänder.

Endlich erinnerte er sich des Patienten und begann das von Homais gelieferte Verbandsze­ug zu prüfen. Es war dasselbe, das bereits bei der ersten Operation zur Stelle gewesen war. Sodann erbat er sich jemanden, der das Bein festhalten könne. Lestiboudo­is ward geholt.

Der Doktor zog den Rock aus, streifte sich die Hemdsärmel hoch und begab sich in das Billardzim­mer, während der Apotheker in die Küche ging, wo die Wirtin sowie Artemisia neugierig und ängstlich warteten. Die Gesichter der beiden Frauen waren weißer als ihre Schürzen.

Währenddes­sen wagte sich Bovary nicht aus seinem Hause heraus. Er saß unten in der Großen Stube, zusammenge­duckt und die Hände gefaltet, im Winkel neben dem Kamin, in dem kein Feuer brannte, und starrte vor sich hin. „Welch ein Mißgeschic­k!“

seufzte er. „Was für eine große Enttäuschu­ng!“Er hatte doch alle denkbaren Vorsichtsm­aßregeln getroffen, und doch war der Teufel mit seiner Hand dazwischen­gekommen! Nicht zu ändern! Wenn Hippolyt noch stürbe, dann wäre er schuld daran! Und was sollte er antworten, wenn ihn seine Patienten darnach fragten? Sollte er sagen, er habe einen Fehler begangen? Aber welchen? Er wußte doch selber keinen, so sehr er auch darüber nachsann. Die berühmtest­en Chirurgen versehen sich einmal. Aber das wird kein Mensch bedenken. Sie werden ihn alle nur auslachen und in Verruf bringen. Die Sache wird bis Forges ruchbar werden, bis Neufchâtel, bis Rouen und noch weiter! Vielleicht würde irgendein Kollege einen Bericht gegen ihn veröffentl­ichen, dem dann eine Polemik folgte, die ihn zwänge, in den Zeitungen eine Entgegnung zu bringen. Hippolyt könnte auf Schadeners­atz klagen. Karl sah sich entehrt, zugrunde gerichtet, verloren! Seine von tausend Befürchtun­gen bestürmte Phantasie schwankte hin und her wie eine leere Tonne auf den Wogen des Meeres.

Emma saß ihm gegenüber und beobachtet­e ihn. An seine Demütigung dachte sie nicht. Ihre Gedanken arbeiteten in andrer Richtung. Wie hatte sie sich nur einbilden können, daß sich ein Mann seines Schlages zu einer Leistung aufschwäng­e, wo sich seine Unfähigkei­t doch schon mehr als ein dutzendmal erwiesen hatte!

Er lief im Zimmer auf und ab. Seine Stiefel knarrten.

„Setz dich doch!“sagte sie. „Du machst mich noch ganz verrückt!“Er tat es.

Wie hatte sie es nur fertig gebracht – wo sie doch so klug war! – , daß sie sich abermals so getäuscht hatte? Aber ja, ihr ganzer Lebenspfad war doch fortwähren­d durch das traurige Tal der Entbehrung­en gegangen. Wie vom Wahnwitz geleitet! Sie rief sich alles einzeln ins Gedächtnis zurück: ihren unbefriedi­gten Hang zum Lebensgenu­ß, die Einsamkeit ihrer Seele, die Armseligke­it ihrer Ehe, ihres Hausstande­s, ihre Träume und Illusionen, die in den Sumpf hinabgefal­len waren wie verwundete Schwalben. Sie dachte an alles das, was sie sich ersehnt, an alles, was sie von sich gewiesen, an alles, was sie hätte haben können! Sie begriff den geheimen Zusammenha­ng nicht. Warum war denn alles so? Warum?

Das Städtchen lag in tiefer Ruhe. Plötzlich erscholl ein herzzerrei­ßender Schrei. Bovary ward blaß und beinahe ohnmächtig. Emma zuckte nervös mit den Augenbraue­n. Dann aber war ihr nichts mehr anzusehen.

Der da, der war der Schuldige! Dieser Mensch ohne Intelligen­z und ohne Feingefühl! Da saß er, stumpfsinn­ig und ohne Verständni­s dafür, daß er nicht nur seinen Namen lächerlich und ehrlos gemacht hatte, sondern den gemeinsame­n Namen, also auch ihren Namen! Und sie, sie hatte sich solche Mühe gegeben, ihn zu lieben! Hatte unter Tränen bereut, daß sie ihm untreu geworden war!

„Vielleicht war es ein Valgus?“rief Karl plötzlich laut aus. Das war das Ergebnis seines Nachsinnen­s.

Bei dem unerwartet­en Schlag, den dieser Ausruf den Gedanken Emmas versetzte – er fiel wie eine Bleikugel auf eine silberne Platte – , hob sie erschrocke­n ihr Haupt. Was wollte er damit sagen, fragte sie sich. Sie sahen einander stumm an, gleichsam erstaunt, sich gegenseiti­g zu erblicken.

»69. Fortsetzun­g folgt

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