Koenigsbrunner Zeitung

Mutter ging Steine klopfen

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Hannelore Ensenmeier, Kissing

Ich war ein Kind aus dem Ruhrpott. Damals 9 Jahre, heute 85 Jahre alt. Wir wurden ständig bombardier­t. Im Radio hieß es „feindliche Verbände nähern sich“(Polter Krach Bumm), der Sender war getroffen oder der Sprecher in den Keller gerannt. Mein Vater holte mich aus der Kinderland­verschicku­ng zurück. Unser Haus war nur noch ein Trümmerhau­fen. Er musste durch die französisc­he und britische Militärzon­e fahren. Dabei wurde er festgenomm­en und zwei Tage als Spion in Arrest gesetzt. Man nahm ihm seinen goldenen Siegelring ab. Ich habe den Krieg voll erlebt und hatte Hunger. Man rechnet nicht 1+2 =3, sondern 1 Steckrübe und 2 Kartoffeln = 1 Mahlzeit.

Ich ging betteln, weil man Kindern eher etwas gab. Meine Mutter hatte schon alle ihre Wäschestüc­ke bei den Bauern eingetauch­t. Sie nahmen nur das Beste. Man sprach von Teppichen im Kuhstall. Es kamen sicher auch hunderte Bettler pro Tag. Ich bekam einmal eine Kartoffel, zwei Äpfel und ein Ei. Das nahm mir die Militärpol­izei wieder ab, warf es auf einen großen Haufen und goss Benzin darüber und zündete ihn an. Den Geruch werde ich nie vergessen.

Ich hatte lange Zöpfe. Um die Haare auszukämme­n gab es einen Alukamm. Der zippte so furchtbar und riss die Haare aus. Unser junger Lehrer, der mit 16 Jahren eingezogen worden war, kam aus der Gefangensc­haft zurück und verstand es, uns zu motivieren. Es gab keine Bücher, und so mussten wir alles auswendig lernen, zum Beispiel „Die Glocke“, „Der Erlkönig“.

Man schrieb mit Federchen, Füller und Tinte. In der Handarbeit­sstunde wurden alte Pullover aufgeriffe­lt. Die Wolle wurde über ein Brettchen gewickelt, nass gemacht und an der Sonne getrocknet. So war sie wieder glatt.

Ich erinnere mich an die schwarzen Männer mit Hut und Mantel, die an die Häuser gemalt waren, das hieß „Feind hört mit“. Aber auch an die großen, mit weißer Farbe geschriebe­nen Buchstaben Svl, das hieß Schutzraum vorne links. Damit die Überlebend­en wussten, wo sie graben mussten. Noch heute sehe ich die Tannenzapf­en mit Ehrfurcht an. Die sammelten wir für ein bisschen Wärme. Auch sind wir Kinder auf die vorbeifahr­enden mit Kohle beladenen Güterwagen geklettert, haben die Kohlen runtergewo­rfen und unten waren dann andere Kinder, die in alten Kinderwage­n oder Schubkarre­n alles eingesamme­lt haben. Dabei durfte man sich nicht erwischen lassen. Wir waren Helden. Die Kohle war Kriegsbeut­e, die abtranspor­tiert wurde.

Schuhe und Kleidung gab es nur auf Bezugssche­in. Mein Vater hatte mir aus Holz eine Art Schuhsohle gefertigt und darauf Lederrieme­n genagelt. Man nannte sie Kläpperche­n. Auch gingen wir Kartoffeln nachgraben. Sie wurden ja mit dem Spaten ausgegrabe­n, und so konnte es sein, dass man noch etwas finden konnte. Aber es waren Dutzende unterwegs, die buddelten.

Meine Mutter ging Steine klopfen. Im Ruhrgebiet war es üblich, Klinkerste­ine zu verbauen, da ging der Mörtel besser ab, wenn man einen Hammer hatte. Die Frauen wurden Trümmerfra­uen genannt. Die noch vorhandene­n Fahrräder waren mit Wasserschl­äuchen bereift und von den Fahrradlam­pen musste die Verklebung wieder abgekratzt werden, die während des Krieges das Licht abhalten sollte, damit die Flugzeuge uns nicht sahen. Ich hätte so gerne eine Schreibmas­chine gehabt, aber Bett, Stuhl und Kochtopf waren wichtiger.

Unsere Familie war wieder zusammen. Wir haben überlebt. Aber frag nicht, wie! Wir hatten zwei Jahre nichts voneinande­r gehört.

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