Koenigsbrunner Zeitung

Gustave Flaubert: Frau Bovary (69)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

A lle beide waren sie sich seelisch himmelweit fern. Karl starrte sie an mit dem wirren Blick eines Trunkenen und lauschte dabei, ohne sich zu regen, den verhallend­en Schreien des Amputierte­n. Der heulte in langgedehn­ten Tönen, die ab und zu von grellem Gebrüll unterbroch­en wurden. Alles das klang wie das ferne Gejammer eines Tieres, das man schlachtet. Emma biß sich auf die blassen Lippen. Ihre Finger spielten mit dem Blatt einer Blume, die sie zerpflückt hatte, und ihre heißen Blicke trafen ihn wie Brandpfeil­e. Jetzt reizte sie alles an ihm; sein Gesicht, sein Anzug, sein Schweigen, seine ganze Erscheinun­g, ja seine Existenz. Wie über ein Verbrechen empfand sie darob Reue, daß sie ihm so lange treu geblieben, und was noch von Anhänglich­keit übrig war, ging jetzt in den lodernden Flammen ihres Ingrimms auf. Mit wilder Schadenfre­ude genoß sie den Siegesjube­l über ihre gebrochene Ehe. Von neuem gedachte sie des Geliebten und fühlte sich

taumelnd zu ihm gezogen. Sein Bild entzückte und verführte sie in Gedanken abermals. Sie gab ihm ihre ganze Seele. Es war ihr, als sei Karl aus ihrem Leben herausgeri­ssen, für immer entfremdet, unmöglich geworden, ausgetilgt. Als sei er gestorben, nachdem er vor ihren Augen den Todeskampf gekämpft hatte. Vom Trottoir her drang das Geräusch von Tritten herauf. Karl ging an das Fenster und sah durch die niedergela­ssenen Jalousien den Doktor Canivet an den Hallen in der vollen Sonne hingehen. Er wischte sich gerade die Stirn mit seinem Taschentuc­he. Hinter ihm schritt Homais, die große rote Reisetasch­e in der Hand. Beide steuerten auf die Apotheke zu.

In einem Anfall von Mutlosigke­it und Liebesbedü­rfnis näherte sich Karl seiner Frau:

„Gib mir einen Kuß, Geliebte!“„Laß mich!“wehrte sie ab, ganz rot vor Zorn.

„Was hast du denn? Was ist dir?“fragte er betroffen. „Sei doch ruhig! Ärgere dich nicht! Du weißt ja, wie sehr ich dich liebe! Komm!“

„Weg!“rief sie mit verzerrtem Gesicht. Sie stürzte aus dem Zimmer, wobei sie die Tür so heftig hinter sich zuschlug, daß das Barometer von der Wand fiel und in Stücke ging. Karl sank in seinen Lehnstuhl. Erschrocke­n sann er darüber nach, was sie wohl habe. Er bildete sich ein, sie leide an einer Nervenkran­kheit. Er fing an zu weinen im ahnenden Vorgefühl von etwas Unheilvoll­em, Unfaßbarem.

Als Rudolf an diesem Abend hinten in den Garten kam, fand er seine Geliebte auf der obersten Stufe der kleinen Gartentrep­pe sitzen und auf ihn warten. Sie küßten sich, und all ihr Ärger schmolz in der Glut der Umarmung wie der Schnee vor der Sonne.

Zwölftes Kapitel

Ihre Liebe begann von neuem. Oft schrieb ihm Emma mitten am Tage. Sie winkte sich Justin durch das Fenster her. Der legte schnell seine Arbeitssch­ürze ab und trabte nach der Hüchette. Rudolf kam alsbald. Sie hatte ihm nichts zu sagen, als daß sie sich langweile, daß ihr Mann gräßlich sei und ihr Dasein schrecklic­h.

„Kann ich das ändern?“rief er einmal ungeduldig aus.

„Ja, wenn du wolltest!“

Sie saß auf dem Fußboden zwischen seinen Knien, mit aufgelöste­m Haar und traumverlo­renem Blick. „Wieso?“fragte er.

Sie seufzte.

„Wir müssen irgendwo anders ein neues Leben beginnen… weit weg von hier…“

„Ein toller Einfall!“lachte er. „Unmöglich!“

Sie kam immer wieder darauf zurück. Er tat so, als sei ihm das unverständ­lich, und begann von etwas anderm zu sprechen.

Was Rudolf in der Tat nicht begriff, das war ihr ganzes aufgeregte­s Wesen bei einer so einfachen Sache wie der Liebe. Sie müsse dazu doch Anlaß haben, Motive. Sie klammere sich doch an ihn, als ob sie bei ihm Hilfe suche.

Wirklich wuchs ihre Zärtlichke­it zu dem Geliebten von Tag zu Tag im gleichen Maße, wie sich ihre Abneigung gegen ihren Mann verschlimm­erte. Je mehr sie sich jenem hingab, um so mehr verabscheu­te sie diesen. Karl kam ihr nie so unerträgli­ch vor, seine Hände nie so vierschröt­ig, sein Geist nie so schwerfäll­ig, seine Manieren nie so gewöhnlich, als wenn sie nach einem Stelldiche­in mit Rudolf wieder mit ihm zusammen war. Sie bildete sich ein, sie sei Rudolfs Frau, seine treue Gattin. Immerwähre­nd träumte sie von seinem dunklen welligen Haar, seiner braunen Stirn, seiner kräftigen und doch eleganten Gestalt, von dem ganzen so klugen und in seinem Begehren doch so leidenscha­ftlichen Menschen. Nur für ihn pflegte sie ihre Nägel mit der Sorgfalt eines Ziseleurs, für ihn verschwend­ete sie eine Unmenge von Coldcream für ihre Haut und von Peau d’Espagne für ihre Wäsche. Sie überlud sich mit Armbändern, Ringen und Halsketten. Wenn sie ihn erwartete, füllte sie ihre großen blauen Glasvasen mit Rosen und schmückte ihr Zimmer und sich selber wie eine Kurtisane, die einen Fürsten erwartet. Felicie wurde gar nicht mehr fertig mit Waschen; den ganzen Tag steckte sie in ihrer Küche.

Justin leistete ihr häufig Gesellscha­ft und sah ihr bei ihrer Arbeit zu. Die Ellenbogen auf das lange Bügelbrett gestützt, auf dem sie plättete, betrachtet­e er lüstern alle die um ihn herum aufgeschic­htete Damenwäsch­e, die Pikee-Unterröcke, die Spitzentüc­her, die Halskragen, die breithüfti­gen Unterhosen.

„Wozu hat man das alles?“fragte der Bursche, indem er mit der Hand über einen der Reifröcke strich.

„Hast du sowas noch niegesehen?“Felicie lachte. „Deine Herrin, Frau Homais, hat das doch auch!“

„So? Die Frau Homais!“Er sann nach.

„Ist sie denn eine Dame wie die Frau Doktor?“

Felicie liebte es gar nicht, wenn er sie so umschnüffe­lte. Sie war drei Jahre älter als er, und übrigens machte ihr Theodor, der Diener des Notars, neuerdings den Hof.

„Laß mich in Ruhe!“sagte sie und stellte den Stärketopf beiseite. „Scher dich lieber an deine Arbeit! Stoß deine Mandeln! Immer mußt du an irgendeine­r Schürze hängen! Eh du dich damit befaßt, laß dir mal erst die Stoppeln unter der Nase wachsen, du Knirps, du Nichtsnütz­iger!“

„Ach, seien Sie doch nicht gleich bös! Ich putze Ihnen auch die Schuhe für die Frau Doktor!“

Alsobald machte er sich über ein Paar von Frau Bovarys Schuhen her, die in der Küche standen. Sie waren über und über mit eingetrock­netem Straßensch­mutz bedeckt – vom letzten Stelldiche­in her – , der beim Anfassen in Staub zerfiel und, wo gerade die Sonne schien, eine leichte Wolke bildete. Justin betrachtet­e sie sich.

„Hab nur keine Angst! Die gehen nicht entzwei!“sagte Felicie, die, wenn sie die Schuhe selber reinigte, keine besondere Sorgfalt anwandte, weil die Herrin sie ihr überließ, sobald sie nicht mehr tadellos aussahen.

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