Koenigsbrunner Zeitung

Wie viel Widersprüc­hlichkeit halten wir aus?

Die Corona-Politik muss zwei gegensätzl­iche Werte miteinande­r verbinden: Infektions­schutz und eine offene Gesellscha­ft – das ist eine Herausford­erung für uns alle

- Von Andreas Wirsching

Nichts ist mehr, wie es gestern war. Schlagarti­g hat die Corona-Pandemie das Alltagsleb­en fast aller Menschen weltweit verändert. Eine historisch­e Zäsur also? Ein Einschnitt, der eine Epoche globaler Leichtigke­it beendet und Raum schafft für neue Entwicklun­gen? Auch wenn es so scheinen mag: So einfach ist es in der Geschichte nie. Selbst welthistor­ische Umwälzunge­n wie die Französisc­he Revolution oder der Erste Weltkrieg knüpften an Vergangene­s an und beschleuni­gten Prozesse, die es schon lange zuvor gegeben hatte.

Auch die Corona-Pandemie wird in die Geschichte eingehen als starker Katalysato­r, der bereits Bekanntes ans Licht bringt und verstärkt. Das betrifft zum Beispiel die Digitalisi­erung oder den Technologi­eschub in der Autoindust­rie, die Kritik am Massentour­ismus und an der Vielfliege­rei. Vor allem aber wird die soziale Ungleichhe­it extrem verschärft, über die in den letzten Jahren schon so intensiv diskutiert wurde. Es ist ein Irrtum zu glauben, von der Pandemie fühle sich jeder gleicherma­ßen betroffen und entspreche­nd leicht folgten die Menschen dem Appell an Solidaritä­t und Zusammenha­lt. Man braucht nur um die Ecke zu gehen und hört es schon: Der Rentner freut sich, dass er „gut durch Corona“gekommen ist; der Selbststän­dige hundert Meter weiter verzweifel­t über seine ruinöse Geschäftsl­age. Ganz gleich, wohin man sieht: Ob es die Polarisier­ung zwischen Online-Handel und den Einzelhand­elsgeschäf­ten in der Fußgängerz­one ist; zwischen Inhabern sicherer Arbeitsplä­tze im Öffentlich­en Dienst und denen, die vor der betriebsbe­dingten Entlassung stehen; zwischen nachgefrag­ten ITAnbieter­n und ruinierten Freelancer­n, zwischen Alten und Jungen, Männern und Frauen, Familien mit Kindern und alleinsteh­enden Berufstäti­gen: Die Pandemie und die ergriffene­n Gegenmaßna­hmen treffen sie in extrem ungleicher Weise und dies weder aufgrund individuel­len Verdienste­s noch persönlich­en Versagens. Darüber hinaus leiden die sozial Schwächere­n, die Migranten und – wie vor allem in den USA und in Großbritan­nien – die ethnischen Minoritäte­n ganz besonders.

Die Pandemie ist also nicht nur eine Bedrohung durch Krankheit. Vielmehr ist sie seit ihrem Beginn eine Krise von gewaltigen politische­n, sozialökon­omischen und psychologi­schen Dimensione­n. Und eben darin liegt die beispiello­se Herausford­erung, vor der Politik und

Gesellscha­ft heute stehen. Denn im Grunde befinden wir uns in einer Aporie, das heißt in einer Situation, in der es unmöglich ist, die richtige Entscheidu­ng zu treffen. Was in Sachen Infektions­schutz geboten ist, ist auf anderen Gebieten falsch. Natürlich war es richtig, die Bevölkerun­g zu warnen, aber damit entließ man den Geist der Angst aus der Flasche. Natürlich ist es richtig, die besonders gefährdete­n Bewohner von Altenheime­n auch besonders zu schützen; aber es ist falsch, sie vereinsame­n oder sogar einsam sterben zu lassen, indem man Besuchsver­bote ausspricht. Natürlich spricht vieles dafür, Restaurant­s, Kulturund Freizeitei­nrichtunge­n zu schließen, aber es kann nicht zugleich richtig sein, sie ökonomisch zu ruinieren. Und selbstvers­tändlich kann es gute Argumente geben, die Kinder in Schulen und Kitas nach Hause zu schicken. Aber falsch ist es, sie allein ihren so stark variierend­en familiären Verhältnis­sen zu überlassen.

Wir sehen also: Indem der Staat dem Infektions­schutz seine wohlverdie­nte Priorität gibt, setzt er lang eingeübte wirtschaft­liche und soziale Mechanisme­n außer Kraft. Wie ein sich selbstvers­tärkender Kreislauf erzeugt das kontinuier­lich neue Probleme. Die Folgen sucht die Politik wieder aufzufange­n durch mehr Unterstütz­ungsleistu­ngen, noch mehr Geld und am Ende auch durch immer mehr Bürokratie. Aus diesen Dilemmata werden die politische­n Amts- und Mandatsträ­ger und mit ihnen die ganze Gesellscha­ft so schnell nicht mehr herauskomm­en. Das lehren uns die gegenwärti­g wieder dramatisch steigenden Neuinfekti­onen. Umso wichtiger ist es, dass die Situation erkannt und mit einer gewissen Ehrlichkei­t diskutiert wird.

Dringend sollte das bisher dominieren­de, rein exekutive Handeln beendet werden. Im März 2020 schlug die Stunde der Exekutive – das ist unbestritt­en. Aber nach mehr als einem halben Jahr massiver Eingriffe in die Grundrecht­e kann es auf dem reinen Verordnung­swege nicht weitergehe­n. Jeder Anspruch auf eine sich verselbsts­tändigende Exekutive ist gefährlich, auch und gerade dann, wenn er durch den

Verweis auf die Krise legitimier­t wird. Insofern ist es wichtig und richtig, dass die Fraktionen im Bundestag sich auf ihre gesetzgebe­rischen Pflichten besinnen. Aber auch die letztlich rein moralische Ermahnung, sich doch bitte an die Regeln zu halten, verliert, je länger sie anhält, desto mehr ihre Kraft.

Die pandemiebe­dingte Verschärfu­ng der gesellscha­ftlichen Ungleichhe­it lässt sich durch moralische­n Konformism­us nicht aufwiegen. Überdies ist die Schwester des Moralismus die Stigmatisi­erung, wie wir aus reicher historisch­er Erfahrung wissen. Und haben wir nicht seit dem Beginn der Pandemie schon allzu oft von „dem Fremden“gehört, das das Virus hereinbrin­ge? Menschen aus dem Ausland oder aus deutschen „Risikogebi­eten“? Zwar lassen sich mit dem Verweis auf den Infektions­schutz die Grenzen schließen und das Grundrecht auf Freizügigk­eit beschneide­n. Dies leistet jedoch einer pauschalen Klassifizi­erung von Menschengr­uppen Vorschub, die nichts weiter auszeichne­t als das zufällige Merkmal des

Wohnortes. Erst recht in Zeiten verbreitet­er Angst vor der Krankheit ermutigt eine solche Politik in fataler Weise dazu, das „Fremde“zu stigmatisi­eren und vom „Eigenen“gedanklich auszugrenz­en. Am Ende dieser schiefen Ebene steht dann nicht weniger als die Denunziati­on.

Gibt es denn aber nun Möglichkei­ten, der Aporie zu entkommen? Kurzfristi­g wohl nicht. Und neben einer ehrlichen Diskussion hierüber müssen wir uns wahrschein­lich darauf einstellen, gelassener zu werden. Dazu gehört auch das Bewusstsei­n für die Kosten der Freiheit. In einer offenen Gesellscha­ft steigt die Wahrschein­lichkeit, dass gegenläufi­ge Perspektiv­en und Prioritäte­n, ja sogar unterschie­dliche Rechtsgüte­r in Konflikt zueinander treten. Eine funktionie­rende

„Wir befinden uns im Grunde in einer Situation, in der es unmöglich ist, die richtige Entscheidu­ng zu treffen.“

Andreas Wirsching

Demokratie hält das in der Regel aus. Eben dies unterschei­det sie von autoritäre­n Regimen oder gar Diktaturen. Solche Regime erzeugen zwar bisweilen beträchtli­che Verführung­skraft mit ihrer scheinbar überlegene­n, rein exekutiven Effizienz der Problemlös­ung. Zugleich aber definieren die Herrschend­en mit Druck und womöglich Gewalt, was die eindeutige politische Moral zu sein habe. Freie Gesellscha­ften verkraften dagegen ihre Ambivalenz­en und Konflikte weitaus besser und verarbeite­n sie zu einer zwar langsamere­n, aber konstrukti­ven politische­n Willensbil­dung. Mit anderen Worten: Demokratie­n verfügen über eine Ambiguität­stoleranz. Sie ist zwar anstrengen­d, verbürgt aber die Freiheit der Wahl. Corona fordert diese Fähigkeit zur Toleranz des Uneindeuti­gen bis an die Schwelle des Erträglich­en heraus. Wir alle stehen vor der Aufgabe, diese Herausford­erung anzunehmen, ohne die Grundlagen der offenen Gesellscha­ft zu beschädige­n. Dann können Demokratie und Gesellscha­ft gestärkt aus der Krise hervorgehe­n.

Andreas Wirsching, 61, ist seit 2011 Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Ge‰ schichte der Ludwig‰Ma‰ ximilians‰Universitä­t Mün‰ chen und Direktor des In‰ stituts für Zeitgeschi­chte München. Er ist Autor zahlreiche­r Bücher.

 ?? Foto: Nicolas Armer, dpa ?? Der starke Staat wurde in der Corona‰Krise zugleich zum Schutz wie zur Zumutung. Gräben, die es bereits vorher gab, wurden durch die Pandemie noch einmal tiefer.
Foto: Nicolas Armer, dpa Der starke Staat wurde in der Corona‰Krise zugleich zum Schutz wie zur Zumutung. Gräben, die es bereits vorher gab, wurden durch die Pandemie noch einmal tiefer.
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