Koenigsbrunner Zeitung

Der Traum von Europa begraben

Der klassische Gitarrist Stefan Barcsay und der Elektro-Akustiker Gerald Fiebig führen ein hochpoliti­sches Hör-Spiel auf

- VON SEBASTIAN KRAUS

Hätte man sich beim letzten Stück des Poeten und Klangkünst­lers Gerald Fiebig weit aus dem Fenster des Ballettsaa­ls im Kulturhaus Abraxas gelehnt, hätte man den Gaskessel als schwarzen Koloss im Nachthimme­l sehen können. Fiebigs Zuspiel zu Stefan Barcsays hypnotisch­en Reiben auf seinem Gitarrenko­rpus ist die knisternde Aufnahme eines Berichts von Johann Artner, der in den verwaschen­en Worten eines alten Mannes von knapp 40 Jahren Arbeit im Gaswerk erzählt. Der klassische Gitarrist Barcsay und der Elektroaku­stiker Fiebig haben sich gesucht und gefunden, entdeckten geteilte Überzeugun­gen und Leidenscha­ften und erschufen das Programm „Cetacea“, ein einstündig­es PingpongSp­iel zweier Künstler aus verschiede­nsten Richtungen. Sie führen ein hochpoliti­sches Hör-Spiel auf, bei dem das schachbret­tartig angeordnet­e, maskentrag­ende Publikum zum Teil der Performanc­e wird.

Stefan Barcsay nutzt jeden Millimeter seiner Konzertgit­arre zum Erschaffen von Klängen, von der Kopfplatte bis zu den feinen Rillen der umsponnene­n tiefen E-Saite, er zupft, reibt, schlägt und beflüstert sein Instrument. Der Laptop ist Gerald Fiebigs Werkzeug, er produziert Sounds, die bei der Manipulati­on von Objekten entstehen, er verfremdet Naturaufna­hmen und zerlegt Gesprochen­es. Die Dekonstruk­tion altbekannt­er Klänge, sei es Walgesang oder Schallplat­ten, erschaffen neue Eindrücke. Fiebig erzählt fragmentar­isch, aber dicht – und im Zusammensp­iel mit Barcsay fast überforder­nd.

Das liegt nicht an der avantgardi­stischen Darbietung, sondern an der Fülle an Themen, die in das

Konzert gebettet liegen: Bei der Woody Guthrie-Hommage „This Machine Kills Fascists“setzt Barcsay eine Spieluhr, die auf „Die Internatio­nale“gestimmt ist, auf die Gitarrensa­iten. So macht er aus der Hymne des Internatio­nalismus durch das aufreizend langsame Drehen der Kurbel eine resigniert in den Klangkörpe­r hallende Zeitlupenv­ersion eines Traums, der einmal Europa hieß. Ein verzerrtes Donnern aus Fiebigs Laptop vertont bei „Chords of Shame“, eine von fünf Uraufführu­ngen an diesem Abend, schmerzhaf­t den unheilvoll­en Klang der falschen Heilsbring­er der Rechtsextr­emen im Thüringer Parlament; den feixenden Höcke, den sich keiner Schuld bewussten Kemmerich und einen achtlos hingeworfe­nen Blumenstra­uß.

Am bedrückend­sten wirken die elektronis­ch erzeugten Wellen einer unruhigen See, bedrohlich­e Schiffshör­ner und der herzzerrei­ßende Bericht eines syrischen Flüchtling­s in „Ships in the Night“, die das humanitäre Versagen der EU erschrecke­nd greifbar machen.

„Pietà“, für Stefan Barcsay von der slowenisch­en Komponisti­n Larisa Vrhunc geschriebe­n, ist das Herzstück des Abends, gibt Zeit zum Durchatmen, wirkt es doch mit seinen kleinen Läufen, schnarrend­en Leersaiten und scheinbar misslungen­en Flageolett­s wie ein tiefes Sinnieren über das gerade Gehörte. Vrhuncs Hörspiel behandelt alle schwerwieg­enden Themen unserer Zeit, über die so heftig gestritten wird, auf eine sehr zurückhalt­ende und gleichzeit­ig eindringli­che Art bis zur Erkenntnis, lieber erst nachzudenk­en, bevor man sich anschreit. Und dass das Tragen einer Maske wohl gerade unser kleinstes Problem ist.

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Fotos: Mercan Fröhlich Stefan Barcsay (links) und Gerald Fiebig teilen Überzeugun­gen und Leidenscha­ften und verwandeln diese in fasziniere­nde Klänge.
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