Der Traum von Europa begraben
Der klassische Gitarrist Stefan Barcsay und der Elektro-Akustiker Gerald Fiebig führen ein hochpolitisches Hör-Spiel auf
Hätte man sich beim letzten Stück des Poeten und Klangkünstlers Gerald Fiebig weit aus dem Fenster des Ballettsaals im Kulturhaus Abraxas gelehnt, hätte man den Gaskessel als schwarzen Koloss im Nachthimmel sehen können. Fiebigs Zuspiel zu Stefan Barcsays hypnotischen Reiben auf seinem Gitarrenkorpus ist die knisternde Aufnahme eines Berichts von Johann Artner, der in den verwaschenen Worten eines alten Mannes von knapp 40 Jahren Arbeit im Gaswerk erzählt. Der klassische Gitarrist Barcsay und der Elektroakustiker Fiebig haben sich gesucht und gefunden, entdeckten geteilte Überzeugungen und Leidenschaften und erschufen das Programm „Cetacea“, ein einstündiges PingpongSpiel zweier Künstler aus verschiedensten Richtungen. Sie führen ein hochpolitisches Hör-Spiel auf, bei dem das schachbrettartig angeordnete, maskentragende Publikum zum Teil der Performance wird.
Stefan Barcsay nutzt jeden Millimeter seiner Konzertgitarre zum Erschaffen von Klängen, von der Kopfplatte bis zu den feinen Rillen der umsponnenen tiefen E-Saite, er zupft, reibt, schlägt und beflüstert sein Instrument. Der Laptop ist Gerald Fiebigs Werkzeug, er produziert Sounds, die bei der Manipulation von Objekten entstehen, er verfremdet Naturaufnahmen und zerlegt Gesprochenes. Die Dekonstruktion altbekannter Klänge, sei es Walgesang oder Schallplatten, erschaffen neue Eindrücke. Fiebig erzählt fragmentarisch, aber dicht – und im Zusammenspiel mit Barcsay fast überfordernd.
Das liegt nicht an der avantgardistischen Darbietung, sondern an der Fülle an Themen, die in das
Konzert gebettet liegen: Bei der Woody Guthrie-Hommage „This Machine Kills Fascists“setzt Barcsay eine Spieluhr, die auf „Die Internationale“gestimmt ist, auf die Gitarrensaiten. So macht er aus der Hymne des Internationalismus durch das aufreizend langsame Drehen der Kurbel eine resigniert in den Klangkörper hallende Zeitlupenversion eines Traums, der einmal Europa hieß. Ein verzerrtes Donnern aus Fiebigs Laptop vertont bei „Chords of Shame“, eine von fünf Uraufführungen an diesem Abend, schmerzhaft den unheilvollen Klang der falschen Heilsbringer der Rechtsextremen im Thüringer Parlament; den feixenden Höcke, den sich keiner Schuld bewussten Kemmerich und einen achtlos hingeworfenen Blumenstrauß.
Am bedrückendsten wirken die elektronisch erzeugten Wellen einer unruhigen See, bedrohliche Schiffshörner und der herzzerreißende Bericht eines syrischen Flüchtlings in „Ships in the Night“, die das humanitäre Versagen der EU erschreckend greifbar machen.
„Pietà“, für Stefan Barcsay von der slowenischen Komponistin Larisa Vrhunc geschrieben, ist das Herzstück des Abends, gibt Zeit zum Durchatmen, wirkt es doch mit seinen kleinen Läufen, schnarrenden Leersaiten und scheinbar misslungenen Flageoletts wie ein tiefes Sinnieren über das gerade Gehörte. Vrhuncs Hörspiel behandelt alle schwerwiegenden Themen unserer Zeit, über die so heftig gestritten wird, auf eine sehr zurückhaltende und gleichzeitig eindringliche Art bis zur Erkenntnis, lieber erst nachzudenken, bevor man sich anschreit. Und dass das Tragen einer Maske wohl gerade unser kleinstes Problem ist.