Koenigsbrunner Zeitung

Diskussion um Silvesterf­euerwerk wegen Corona

Der reiche Alpenstaat hat sich zu einem Corona-Hotspot entwickelt. Mediziner sprechen von politische­m Totalversa­gen, andere hoffen einfach nur, dass die Intensivbe­tten reichen

- VON JAN DIRK HERBERMANN

Manch einem ist die ewige Knallerei ohnehin ein Dorn im Auge (oder auch Ohr), doch nun diskutiert die Politik erstmals ein mögliches Feuerwerks­verbot an Silvester. Grund ist aber nicht etwa die Lärmoder Feinstaubb­elastung, sondern, natürlich und wie bei allem dieser Tage, das Coronaviru­s. Denn zum einen werden größere Menschenan­sammlungen befürchtet, zum anderen eine erhöhte Auslastung der Kliniken. Wird dieser Jahreswech­sel also ein ruhiger werden? Mehr dazu auf der Seite Bayern. Das Coronaviru­s beschäftig­t gerade die meisten Länder der Welt – besonders betroffen ist jedoch aktuell die Schweiz. Das Land hat sich innerhalb kurzer Zeit zu einem Brennpunkt in der Pandemie entwickelt, die Intensivbe­tten sind voll, die Zahl der Todesfälle steigt.

Bern Aus dem Pralinenge­schäft weht süßer Duft in die Bahnhofspa­ssage. Vor dem Laden wartet ein halbes Dutzend Kunden, zwei tragen keine Maske. Auch vor einer Fast-Food-Kette herrscht Andrang. Daneben, in einem italienisc­hen Café, flitzen Kellnerinn­en zwischen gut besetzten Tischen hin und her. Passanten und Gäste kommen sich überall nahe. Gefährlich nahe.

Eigentlich müssten alle diese Menschen in Bern nach den neuesten Anti-Corona-Bestimmung­en der Schweizer Regierung einen Mund- und Nasenschut­z überziehen. Doch viele Münder und Nasen sind frei. Dabei hat sich die Eidgenosse­nschaft binnen weniger Wochen zu einem Brennpunkt der Corona-Epidemie entwickelt. Seit Ende Oktober meldete das Bundesamt für Gesundheit an mehreren Tagen jeweils rund 10 000 bestätigte Covid-19-Neuinfekti­onen. Zwar ist die Zahl zurückgega­ngen, zuletzt auf rund 5000. Für ein Land mit 8,6 Millionen Einwohnern markiert das noch immer einen alarmieren­den Wert. Zum Vergleich: In Deutschlan­d leben fast zehnmal mehr Menschen. Doch kommt die Bundesrepu­blik auf Fallzahlen, die, sehr grob gerechnet, nur drei- bis viermal so hoch ausfallen wie in der Schweiz.

werden knapp, die Intensivst­ationen sind voll, die Zahl der erfassten Covid-19-Todesfälle stieg auf 3464 – abermals ein hoher Wert im internatio­nalen Vergleich. Gesundheit­sminister Alain Berset musste gestehen: „Die Lage bleibt ernst.“

Es ist derselbe Berset, der vor gut einem halben Jahr, als die erste Covid-19-Welle abebbte, den Schweizern versichert­e: „Wir können Corona.“Im Juni registrier­te die Regierung nur noch vereinzelt­e Ansteckung­en. Das Kabinett hob die scharfen Restriktio­nen des ersten Lockdowns schrittwei­se auf. Und die Schweizer fassten wieder Mut, die Wirtschaft wieder Tritt.

Doch nun rollt die zweite Corona-Welle über das Alpenland. Und die Menschen fragen sich: Wer trägt die Verantwort­ung für die eskalieren­de Krise? Wie kann die reiche durchorgan­isierte Schweiz mit einem internatio­nal herausrage­nden Gesundheit­ssystem so scheitern?

Zwischen Bodensee und Genfersee grassierte lange eine nahezu ansteckend­e Sorglosigk­eit. Die vielen Partys und Feste, draußen und drinnen, sowie feuchtfröh­liche Nächte in Clubs, Bars und Discos beschleuni­gten die Corona-Ausbreitun­g.

Bei einem Jodelfest im Kanton Schwyz zirkuliert­e das Virus, viele Besucher infizierte­n sich. Bei einer

Hochzeit mit 200 Gästen in der Appenzelle­r Gemeinde Schwellbru­nn feierten Gäste, die Covid-19-Symptome aufwiesen. Als natürliche­r Faktor kommen sinkende Temperatur­en ins Spiel: Der Epidemiolo­ge Matthias Egger bestätigt unserer Redaktion: „Mit dem kalten Wetter, bei dem sich die Leute wieder vor allem in Innenräume­n aufhalten, haben wir eine exponentie­lle Ausbreitun­g ähnlich wie Anfang März.“

Vor allem aber zeigen Helvetiens Politiker nicht immer den nötigen

Biss, oft zögern sie. Viele EU-Staaten reagierten viel drastische­r als die Schweiz. Der Epidemiolo­ge Christian Althaus beklagt „das politische Totalversa­gen der Schweiz“. Keine Verantwort­lichkeiten seien auf irgendeine­r Stufe zu sehen, schrieb Althaus, der in der nationalen Schweizer „COVID-19 Science Task Force“sitzt.

Im Juni gab der Bundesrat die „Hauptveran­twortung“für den Kampf gegen Covid-19 zurück an die 26 Kantone. Seither ordnet die Regierung nur noch national geltende Mindestvor­gaben an. Jeder Kanton ist befugt, darüber hinauszuge­hen. Jedoch kann von einer abgeTest-Kapazitäte­n stimmten Strategie nicht die Rede sein. So sind im Kanton Genf die Friseursal­ons geschlosse­n. Im benachbart­en Waadt nicht. Die Folge: Die Bewohner von Genf fahren für einen Haarschnit­t in die Waadt.

Anfang September, als Befürchtun­gen über eine zweite Welle die Schweiz erfassten, entschied die Regierung: „Das Verbot für Großverans­taltungen mit über 1000 Personen wird unter strengen Auflagen per 1. Oktober 2020 aufgehoben.“Wie stark die 1000-Plus-Treffen die Corona-Krise eskalieren ließen, ist unklar. In jedem Fall breitete sich im Oktober das Coronaviru­s rasant aus. Am 28. Oktober ruderte der Bundesrat wieder zurück.

Beim Personal wird es ebenso eng wie bei den Intensivbe­tten. „Die Realität wird uns zeigen, dass vermutlich nicht die Ausstattun­g fehlen wird, sondern vielmehr das Pflegepers­onal, das am Bett dieser Patienten stehen muss“, erläutert Stefan Hofer, Sprecher der Schweizer Armee. Fachleute der Streitkräf­te berechnen derzeit die Kapazitäte­n in den Krankenhäu­sern; angesichts des Notstandes musste die Armee im Gesundheit­swesen einspringe­n. Doch selbst die Mobilisier­ung der bis zu 2500 Soldaten bringt keine anhaltende Entspannun­g – denn die Uniformier­ten können kaum als Intensivpf­leger eingesetzt werden.

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Foto: Imago Images
 ?? Foto: Jean‰Christophe Bott, Keystone, dpa ?? Auf den Schweizer Intensivst­ationen – hier in einer Klinik in Sion – mangelt es an Personal.
Foto: Jean‰Christophe Bott, Keystone, dpa Auf den Schweizer Intensivst­ationen – hier in einer Klinik in Sion – mangelt es an Personal.

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