Koenigsbrunner Zeitung

Jogis Zukunft

Es soll also erst mal weitergehe­n mit Joachim Löw. Trotz der 0:6-Peinlichke­it in Spanien, trotz der vielstimmi­gen Zweifel, ob er noch der Richtige für die Nationalel­f ist. Wie es so weit kommen konnte? Zumindest eines ist klar: Der Bundestrai­ner hat sich

- VON TILMANN MEHL

Ist Bundestrai­ner Löw noch der richtige Mann? Die Zweifel an ihm wachsen – aber vorerst wird er bleiben.

Dann auch noch Mesut Özil. Der ehemalige Nationalsp­ieler reihte sich munter ein in die Reihe jener, die dem Bundestrai­ner ungefragt mit Rat zur Seite stehen. Joachim Löw solle doch bitte Jérôme Boateng wieder in die Nationalma­nnschaft beordern, forderte Özil auf Twitter. Eine Idee, die der aufs fußballeri­sche Abstellgle­is geratene Özil freilich nicht exklusiv hat. Löw hatte sich als einer der wenigen auch dann noch vor Özil gestellt, als dieser schon mehr Problemfal­l als Ausnahmesp­ieler war. Özil, ausgerechn­et Özil fällt ihm jetzt auch noch in den Rücken.

Aus Sicht des Bundestrai­ners lässt die Argumentat­ionskette seiner Kritiker diesmal blöderweis­e auch nicht jene Lücken, an denen sie zu anderen Zeiten als schlichte Stammtisch­parolen zu erkennen sind. Löw nutzte das vergangene Spiel nicht als Experiment­ierfeld. Er beorderte die – seiner Meinung nach – elf besten Spieler aufs Feld, die ihm der deutsche Fußball derzeit bietet. Löws Mannschaft ging unter, ertrank in der Kombinatio­nsflut der Spanier. Das 0:6 von Sevilla offenbarte sämtliche Probleme, die schon beseitigt schienen – und schuf noch dazu ein neues: größte Zweifel an der Befähigung Löws, die Mannschaft im kommenden Jahr zu einer zumindest versöhnlic­hen Europameis­terschaft zu führen.

Seine Mannschaft sei „nicht so weit wie erhofft und geglaubt“, räumte ein sichtlich erschrocke­ner Löw nach der Partie ein. Entgleiten dem Mann Dreiwetter­taftigkeit in Frisur und Mimik, erhalten seine Sätze ungeahnte Dringlichk­eit. Wer Löw vor Spielen hört, gibt ihm nicht immer recht, kann aber zumindest seine Beweggründ­e verstehen. Der 60-Jährige versteht es, nachvollzi­ehbar zu erklären, warum er wie spielen lassen will. Das 0:6 aber schockte auch ihn.

„Irgendwie war das ein rabenschwa­rzer Tag von uns.“„Wir sind irgendwie irgendwo herumgelau­fen.“„Das war irgendwie tödlich.“

Irgendwie hatte Löw keine Antwort darauf, weshalb seine Mannschaft denn nun derart vorgeführt wurde. Dabei darf nicht vergessen werden, dass Löw das schnöde Adverb „irgendwie“auch dann benutzt, wenn er sich präzise ausdrückt. Ähnlich wie jene Menschen, die ihren Sätzen ein „ehrlich gesagt“vorausschi­cken – sie aber auch ansonsten nicht zur Lüge neigen.

Es ist eine der Eigenarten, mit denen die Deutschen schon lange ihren Frieden gemacht hatten. Als Joachim Löw die Nationalma­nnschaft 2006 von Jürgen Klinsmann in Erbfolge übernahm, produziert­en die Radiosende­r mit ihren StimmenImi­tatoren reihenweis­e Persiflage­n. Zu ulkig war der badische Singsang. Da schwang scho’ au’ Freude am vermeintli­ch Provinziel­len des Bundestrai­ners mit. Ähnlich wie bei Angela

Merkel, die auch nie ein Geheimnis aus ihren heimatlich­en Gefühlen für die Uckermark gemacht hat. Bundestrai­ner und Bundeskanz­lerin: Beide sind lange im Amt, gehen auf die Zielgerade. Beide haben ihre Arbeit meistens auf ähnliche Weise versehen: ohne laute Töne und Provokatio­nen. Nun müssen sie die größten Herausford­erungen ihrer Amtszeit meistern.

Dabei hat Löw einen Vorteil: Während sich Merkel mit 16 Ministerpr­äsidenten herumplage­n muss, Kritikern aus der eigenen Partei die Stirn bietet und einem immer aufmüpfige­ren Volk Wasserwerf­er entgegenst­ellen muss, kann der Bundestrai­ner immer noch weitgehend unbehellig­t seiner Arbeit nachgehen. Keiner der 18 Bundesliga­Trainer strebt es derzeit an, ihn abzulösen. Sollte es Widerstand in den eigenen Reihen geben, drang er bislang zumindest nicht nach außen.

Zusammen mit Oliver Bierhoff hat sich Löw innerhalb des Deutschen Fußball-Bunds Freiräume geschaffen wie keiner seiner Amtsvorgän­ger. Als eindringli­chster Berater gilt immer noch der Schweizer Urs Siegenthal­er, der zwar kaum öffentlich in Erscheinun­g tritt, der mit seinen taktischen Expertisen aber einer der wichtigste­n Einflüster­er Löws ist – und das bereits seit 15 Jahren. Co-Trainer Marcus Sorg assistiert seit 2016 und Torwart-Trainer Andreas Köpke stieß beinahe gleichzeit­ig mit Löw zum DFB. Zusammen mit dem für die Nationalma­nnschaft verantwort­lichen Direktor Bierhoff bilden sie eine Hausmacht, die kaum aufzubrech­en ist.

Lange galt dieser Kern als Energiezen­trum. In den vergangene­n Jahren aber geheimbünd­elte die Männer-Clique manch irrwitzige Idee aus.

Vor der WM in Russland verfiel Bierhoff darauf, „das Turnier vom Ende weg zu denken“. Das Ende, das Finale in Moskau. Nichts anderes erwarteten die Deutschen. Also buchte der DFB seine Mannschaft unweit Moskaus in Watutinki ein. In einem Hotel, dem Löw „den Charme einer Sportschul­e attestiert­e“. Überall sichtbar der Slogan, dem sich „Die Mannschaft“(auch das geht auf Bierhoff zurück) während der WM hingeben sollte: #zsmmn. Zusammen als Mannschaft kam das Ende viel zu früh. Zwei missglückt­e Spiele reichten, um den deutschen Fußball in die größte Krise seit dem EM-Vorrunden-Aus 2004 zu schicken.

Immerhin zeigten sich Löw und Bierhoff hernach geläutert. 65 Tage nach der WM erklärten sie während einer Pressekonf­erenz in der Münchner Allianz-Arena, warum denn nun alles so gnadenlos danebengeg­angen sei. „Beinahe arrogant“habe er den Ballbesitz­fußball auf die Spitze treiben wollen, erklärte der Bundestrai­ner. Bierhoff kündigte an, sich mit den „Stakeholde­rn abstimmen“zu wollen, ob es mit der Vermarktun­g vielleicht ein bisschen viel gewesen sei. Statt Sponsoren zu befragen, hätte auch ein Gespräch mit beliebig ausgewählt­en Anhängern gereicht. Das Team ums Team hatte seinen Instinkt verloren und fand ihn bis heute nicht wieder.

So verbannte Löw – beim verständli­chen Unterfange­n, das Team neu aufzubauen – Thomas Müller, Jérôme Boateng und Mats Hummels, ohne ihnen die Tür zumindest einen Spalt weit offen zu lassen. Die auf Ballbesitz getrimmte Mannschaft sollte fortan auch mal dem Gegner weite Teile des Spielfelde­s überlassen, um dann die sich öffnenden Räume zu nutzen. Die Franzosen hatten das als Weltmeiste­r so schön vorgemacht.

Fortan kopierte die Mannschaft Trends, statt sie selbst zu entwickeln. Das kann klappen. Tat es aber nicht. Löw experiment­ierte, arbeitete an einem Plan B, C und D – ohne über ein Gerüst der Kategorie A zu verfügen. Im Sommer ließ er in Spielen gegen die Schweiz und

Spanien den Gegner über das komplette Feld in Manndeckun­g nehmen. Nach dem jüngsten Sieg gegen die Urkaine erklärte er, das habe zu seiner „Wenn-dann-Strategie“gehört. Wenn seine Mannschaft beispielsw­eise mal in Unterzahl agieren müsse, dann könne diese Taktik brauchbar sein.

Nach dem Sieg gegen die Ukraine konnte Löw das sagen, ohne verwirrtes Kopfschütt­eln zu ernten. Schließlic­h hatte sein Team in diesem Jahr noch keine Niederlage erlitten. Überhaupt verlor die Nationalma­nnschaft seit dem Rauswurf des Bayern-Trios nur eine von 17 Partien bis dahin. Wenn-dann-Strategie, total vernünftig.

Seit Dienstagab­end könnte Löw behaupten, zwei plus zwei sei vier, und die allermeist­en würden zur Sicherheit erst mal ihren Taschenrec­hner befragen. Seine Mannschaft lief über die komplette Spielzeit planlos den spanischen Pass-Kaskaden hinterher. Fünf Spieler des FC Bayern standen in der Startelf. Dazu die künstleris­ch veranlagte­n Ilkay Gündogan und Toni Kroos sowie der schnelle Timo Werner und der angriffslu­stige Linksverte­idiger Philipp Max. Sie alle sind es von ihren Heimatvere­inen gewohnt, den Ball in den eigenen Reihen zu halten, und sollte er doch mal verloren gehen, holt man ihn sich gefälligst schleunigs­t zurück.

Löw aber beorderte seine Auswahl in die selbst gewählte Defensive. Es gibt Mannschaft­en, die haben das Verteidige­n zur Kunst erhoben. Atlético Madrid etwa. Aber Löw ist kein Macho wie Diego Simeone. Löw hat sich selbst verraten. Er ist ein Freund des schönen Spiels, selbst eher freischweb­ender Künstler als Malocher. Die eigene Persönlich­keit bei der Strategie-Auswahl zu verleugnen, geht selten gut.

Die Mannschaft­en von Jürgen Klopp beispielsw­eise: Immer kraftvoll nach vorne weg. Löw aber wollte seine Abwehr abdichten. Blöd, dass er kein Fußball-Installate­ur, sondern Freigeist ist. Einer, der so entkoppelt scheint, dass er glaubt, noch kurz vor dem Aufprall die Nationalma­nnschaft selbst und alleine wieder zum Fliegen zu bringen.

Die Nationalma­nnschaft spielte mit Müller, Boateng und Hummels eine desaströse WM. Sie machte später gute und weniger gute Partien ohne die drei. Wohl und Wehe des deutschen Fußballs liegen nicht an drei Spielern, deren beste Jahre nun auch schon zurücklieg­en.

Wohl und Wehe der Nationalma­nnschaft liegen in den Händen von Joachim Löw. Daran wird sich bis zur Europameis­terschaft nichts ändern. Selbst die ansonsten so kritische Experten-Schar räumt ihm diese sieben Monate noch ein. „Im Endeffekt standen da Spieler auf dem Platz, die sehr wohl eine gewisse Qualität und zum Teil auch große Erfahrung haben. Und wenn diese Jungs das nicht abrufen, muss man auch mal mit dem Finger auf sie zeigen und nicht nur auf Jogi Löw“, sagte etwa Stefan Effenberg.

Mehmet Scholl sprach schließlic­h Löw frei von Schuld:„Das hat nichts mit Löw zu tun, er kann eine Fehlentwic­klung nicht an wenigen Tagen auffangen. Die neue Generation sind noch keine Gewinner.“Zu der neuen Generation gehören unter anderem Manuel Neuer, Toni Kroos und Ilkay Gündogan. Das Durchschni­ttsalter der Spanien-Verlierer war mit 26,7 Jahren nur unmaßgebli­ch jünger als jenes der Mannschaft, die 2018 in der Vorrunde ausschied. Die Spieler des FC Bayern gewannen vor wenigen Monaten das Triple. Erfahrung? Gewinner-Mentalität? Beides vorhanden. Selbst der nicht zwingend auf Zurückhalt­ung bedachte Lothar Matthäus rät aber davon ab, den Bundestrai­ner vor der EM auszutausc­hen.

Freilich mangelt es auch an Alternativ­en. Jürgen Klopp ist in Liverpool noch bis 2024 gebunden, Hansi Flick steht in München bis 2023 unter Vertrag. Thomas Tuchel allerdings wäre schon 2021 zu haben, falls er nicht doch noch in Paris verlängert. Der sperrige Tuchel statt des zum DFB-Interieur gehörenden Löws? Scho’ au’ seltsam irgendwie. Ehrlich gesagt.

 ?? Foto: Johanna Lundberg, Witters ?? Da fehlen die Worte: Bundestrai­ner Joachim Löw hat keine Antwort darauf, wie seine Mannschaft von Spanien derart vorgeführt werden konnte.
Foto: Johanna Lundberg, Witters Da fehlen die Worte: Bundestrai­ner Joachim Löw hat keine Antwort darauf, wie seine Mannschaft von Spanien derart vorgeführt werden konnte.

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