Koenigsbrunner Zeitung

Die EU blockiert sich selbst

Angela Merkel ist als Vermittler­in gefragt

- VON DETLEF DREWES

Brüssel Als die Kameras in den 27 Regierungs­zentralen gestern Abend eingeschal­tet wurden, hatten die Brüsseler EU-Juristen bereits drei Nächte durchgearb­eitet. Auf dem Tisch der 27 Staatenlen­ker lagen diverse Szenarien, die einen Ausweg aus jener Sackgasse weisen sollten, in die Ungarn und Polen die Gemeinscha­ft am Montag hatten hineinlauf­en lassen: Aus Verärgerun­g über einen neuen Rechtsstaa­tsmechanis­mus, der es möglich machen würde, Verstöße gegen demokratis­che Grundwerte mit dem Entzug von Subvention­en zu bestrafen, hatten die Vertreter Warschaus und Ungarns das gesamte Finanzpake­t der Gemeinscha­ft über 1,8 Billionen Euro gestoppt. Es besteht aus dem Ausgabenra­hmen für die Jahre 2021 bis 2027 über 1,1 Billionen Euro und dem Aufbaufond­s über 750 Milliarden Euro, aus dem die Regierunge­n ihre Hilfen für kleine und große Unternehme­n bezahlen wollten, die durch die Coronaviru­s-Krise geschädigt worden waren.

Bis zum gestrigen Abend hatte vor allem Bundeskanz­lerin Angela Merkel als Vertreteri­n der halbjährli­ch wechselnde­n Ratspräsid­entschaft alle Hände voll zu tun, um den absehbaren Schaden von der Union noch abzuwenden. Beobachter berichtete­n, sie habe stundenlan­g mit allen Amtskolleg­en telefonier­t. Ihr Ziel: Polen umstimmen und Ungarn isolieren. Nur ganze 30 Minuten beschäftig­te das Thema dann die Staats- und Regierungs­chefs. Sowohl Ungarns Premier Viktor Orbán wie auch sein polnischer Amtskolleg­e Mateusz Morawiecki hätten ihr Veto verteidigt, berichtete­n Regierungs­kreise am Abend. Ratspräsid­ent Charles Michel beendete die Diskussion angesichts völlig verhärtete­r Fronten schließlic­h und vertagte das Thema. In Brüssel setzt man nun darauf, dass auch die Zeit gegen die beiden Regierunge­n in Warschau und Budapest arbeiten werde. Schließlic­h dürften Polen mit rund 23 Milliarden Euro und Ungarn mit sechs Milliarden Euro aus dem Anti-Corona-Topf rechnen. Beide Staaten sind von der Pandemie schwer getroffen und könnten die Finanzmitt­el, die nicht zurückgeza­hlt werden müssen, gut gebrauchen.

Bis zum nächsten Zusammentr­effen am 10. Dezember werden die 25 Staats- und Regierungs­chefs nun mit den beiden Kollegen aus dem Osten diskutiere­n. Als denkbar gelten zwei mögliche Auswege aus der Krise, von denen die schärfere Variante im Diplomaten­jargon „Atombombe“genannt wird. Unter Bezug auf Artikel 7 des EU-Vertrages müssten die übrigen 25 Mitglieder Defizite bei der Rechtsstaa­tlichkeit in den beiden Ländern feststelle­n. Daraufhin könnte man ihnen die Stimmrecht­e in den europäisch­en Gremien entziehen. Die zweite Variante wäre deutlich einfacher zu haben. Um wenigstens die dringend benötigten Gelder des Aufbaufond­s loszueisen, würden die 25 Regierunge­n (ohne Polen und Ungarn) einen Vertrag miteinande­r schließen. Das Vorbild ist der ESM-Rettungsfo­nds, er arbeitet nach diesem Prinzip. Noch ist unklar, ob diese Möglichkei­t wirklich eine Chance hat oder lediglich zur Abschrecku­ng erfunden wurde.

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Foto: dpa Die Ellenbogen auszufahre­n haben Mer‰ kel und Orbán bereits geübt.

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