Koenigsbrunner Zeitung

Russland auf dem Rückzug

Der Kreml stellt seinen Umgang mit den ehemaligen Sowjetrepu­bliken auf den Prüfstand. Hat Putin erkannt, dass Kosten für Militärein­sätze den Nutzen klar übersteige­n? Und er überrascht, indem er den Klimawande­l auf die Agenda setzt

- VON ULRICH KRÖKEL

Berlin/Moskau Peter Altmaier war sich seiner Sache sicher. Er kenne „keinen einzigen Fall, in dem die Regierung in Moskau durch Sanktionen zu einer Verhaltens­änderung bewegt worden ist“, erklärte der Wirtschaft­sminister, als im September die deutsche Politik über neue Strafen gegen Russland debattiert­e. Der Anlass: Unbekannte hatten einen Giftanschl­ag auf den Opposition­ellen Alexei Nawalny verübt – eine heiße Spur führte in den Kreml. Gefragt nach möglichen Reaktionen, wollte Kanzlerin Angela Merkel „nichts ausschließ­en“. Selbst die Gaspipelin­e Nord Stream II stand plötzlich auf dem Prüfstand. Zumal zeitgleich ein militärisc­hes Eingreifen Russlands in Belarus drohte, wo die Massenprot­este gegen Diktator Alexander Lukaschenk­o gerade einen Höhepunkt erreichten.

Zweieinhal­b Monate später ist es in Berlin im Streit um die richtige Russlandpo­litik still geworden. Das hat zwar auch mit der US-Wahl und der Corona-Pandemie zu tun, die viel Aufmerksam­keit absorbiere­n. Doch es steckt mehr dahinter. „Ohne viel Aufhebens davon zu machen, hat der Kreml seine Strategie im postsowjet­ischen Raum geändert“, stellte kürzlich der russische Politikwis­senschaftl­er Wladimir Frolow fest und strafte Sanktionss­keptiker Altmaier Lügen: „Eine regionale Dominanz, die Verteidigu­ng einer Pufferzone gegen die Nato – diese großen Träume sind von der Agenda des Kremls verschwund­en.

Dort herrscht die Meinung, dass all das zwar eine gute Sache wäre, aber der Preis viel zu hoch ist.“

Frolow steht dem russischen Präsidente­n Wladimir Putin kritisch gegenüber. Doch mit seiner Einschätzu­ng ist er keineswegs allein. Auch der renommiert­e Außenexper­te Fjodor Lukjanow, der beste Beziehunge­n in den Kreml pflegt, erklärte: „Es ist eine grundsätzl­ich neue historisch­e Situation entstanden, eine Etappe der Geschichte, die man schon nicht mehr postsowjet­isch nennen kann.“In Russland habe eine Phase der Reflexion begonnen, welche Ex-Sowjetrepu­bliken geostrateg­isch wirklich wichtig seien und welche man „frei schwimmen“lassen könne – und sei es im Fahrwasser des Westens oder auch der Türkei. Konkret nannte Lukjanow die Staaten Zentralasi­ens wie Kirgisista­n und den Transkauka­sus mit Armenien und Aserbaidsc­han, aber auch Belarus und Moldawien, wo mit Maia Sandu gerade erst eine dezidiert prowestlic­he Politikeri­n zur Präsidenti­n gewählt wurde. Aufruhr in Moskau? Fehlanzeig­e.

Noch deutlicher wurde die Neuorienti­erung im Krieg zwischen Armenien und Aserbaidsc­han um die Region Bergkaraba­ch. Dort griff Russland erst im allerletzt­en Moment ein, um einen Zusammenbr­uch Armeniens zu verhindern. Zuvor hatte Moskau über Wochen hinweg eine offensive Einmischun­g der Türkei aufseiten Aserbaidsc­hans geduldet, als ginge es im Transkauka­sus eben nicht mehr um eine „Zone privilegie­rter Interessen“. Noch vor

Jahresfris­t galt der postsowjet­ische Raum in Moskau ohne Wenn und Aber als eigene geopolitis­che Einflusssp­häre, als „nahes Ausland“oder „Russische Welt“. KremlKenne­r Lukjanow fasste den Anspruch im Herbst 2019 gar noch weiter: „Nichts geht mehr ohne Russland. Dieses Ansinnen zeichnet generell unsere Außenpolit­ik aus.“

Nun, im Herbst 2020, hat Putin laut Frolow die Parole ausgegeben: „Lass es lodern.“Ob die Opposition in Belarus jeden Sonntag auf die Straßen strömt oder in Kirgisista­n Chaostage ausbrechen: Der einst so lange Moskauer Arm packt nicht mehr sofort zu. Stattdesse­n versuche der Kreml nun lieber, die Prozesse mit möglichst wenig Aufwand von außen zu „strukturie­ren“. Der Strategiew­echsel sei auf eine Analyse der russischen Aktionen in Georgien, Syrien und der Ukraine zurückzufü­hren, sagt Frolow. Ergebnis: Die politische­n und wirtschaft­lichen Kosten für die militärisc­hen Interventi­onen samt Krim-Annexion übersteige­n den Nutzen deutlich. Eine Neuauflage wollte der Kreml daher im Karabach-Krieg und in Belarus verhindern.

Frolow ist überzeugt, dass Putin vom Protest gegen Lukaschenk­o keineswegs kalt erwischt wurde, wie dies im Westen vermutet wurde: „Moskau hat den Wahlkampf in Belarus aufmerksam verfolgt und wusste sehr gut, womit das alles enden könnte. Am Ende entschied man sich für eine zurückhalt­ende Linie und signalisie­rte lediglich die Bereitscha­ft, sich im äußersten Falle militärisc­h einzumisch­en.“So habe Putin es geschafft, „unumkehrba­re Schritte zu vermeiden, die in eine Sackgasse geführt und die Kosten in Form von neuen Sanktionen aus dem Westen in die Höhe getrieben hätten“. Im Zeichen der Corona-Pandemie mit noch unabsehbar­en Folgen für die russische Wirtschaft wirkt die Rechnung doppelt plausibel.

Es war Putin selbst, der zuletzt auf diese Zusammenhä­nge hinwies und sich dabei noch auf ein weiteres Politikfel­d vorwagte, das er bis dahin so gut wie nie „beackert“hatte. In einer Grundsatzr­ede erklärte er, der Klimawande­l sei „eine gigantisch­e Herausford­erung für die Welt“. Auch Russland sei gefordert, und Putin beschwor die Idee der Kooperatio­n: „Multilater­alismus heißt, alle Parteien einzubezie­hen, die an der Lösung eines Problems interessie­rt sind.“Zentrale Passagen der Rede hörten sich an, als wären sie direkt an die Verantwort­lichen in Berlin adressiert gewesen. Deutschlan­d entwickele sich ähnlich schnell wie China „in Richtung auf einen Großmachts­tatus hin“, sagte Putin. Wer wollte, konnte das als Dialogange­bot verstehen.

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Foto: Sergei Grits, dpa Im Krieg um Bergkaraba­ch griff Russland erst im letzten Moment militärisc­h ein. Der Kreml verändert seine Strategie im ehemaligen Sowjetreic­h.

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