Das Leben aus der Sicht einer Blindenhündin
Die blinde Autorin Rosmarie Gerstl aus Tronetshofen legt ein neues Buch vor. Unterhaltsames aus der Arbeit einer Labradordame und dem Alltag eines Ehepaars
Tronetshofen Rosmarie Gerstl erblindete mit 23 Jahren. Sie litt an einer diabetischen Retinopathie. Dabei handelt es sich um eine Folgeerkrankung der Zuckerkrankheit, wodurch die Netzhaut geschädigt wird. In ihrem ersten Buch erzählte die 53-Jährige aus dem Fischacher Ortsteil Tronetshofen in unterhaltsamer Form, wie aus dem putzigen Welpen Tessy ein richtiger Blindenführhund wurde - alles aus der Sicht der Labradorhündin. Jetzt brachte die Autorin ein neues Werk heraus: „Mein Leben auf der Gerstlfarm“. Darin berichtet Tessy über ihre Arbeit für ihr Frauchen und den spannenden Alltag zweier Erblindeten.
Das 78 Seiten umfassende Büchlein mit vielen Privatfotos, das im Verlag Tredition Hamburg erschienen ist und 8,50 Euro kostet, ist weit mehr als ein Einblick in das Leben vom Schicksal gebeutelter Menschen. Es ist auch ein Mutmacher, gerade in der Corona-Pandemie. Tessys Erzählung beginnt im Mai 2003. Damals wohnte die Labradordame mit Rosmarie Gerstl und ihrem Ehemann Joe noch auf der sogenannten „Gerstlfarm“in Wyhl am Kaiserstuhl - zusammen mit Schweinen, Stallhasen, Hühnern, Zwergziegen und Katzen. Doch schon bald zog das Paar wegen ihrer gesundheitlichen Probleme in Rosmaries Heimatregion Augsburg, nach Tronetshofen. Tessy fand es dort „wie im Paradies“.
Die Leser erfahren von Tessy, wie das Ehepaar die vielen kleinen und großen Herausforderungen im Alltag meistert, natürlich mit ihrer Hilfe und der Blindenführhündin Timba von Joe Gerstl. Dabei gibt Tessy in der Ich-Form beispielsweise Einblick, wie ein blinder Mensch an der Kasse bezahlt.
„Bei Euromünzen ist das ganz einfach“, so die Hündin. „Die haben unterschiedliche Riffelungen am Rand. Rosi fährt mit dem Fingernagel am Rand der Münze entlang und weiß sofort, welche es ist.“Bei den Scheinen ist das etwas schwieriger. Doch Tessy verrät den Trick, wie sich ihr Frauchen behilft. „Rosi sortiert mithilfe einer Schablone zu Hause ihre Scheine und faltet diese dann unterschiedlich. So erkennt sie an der Kasse sofort, welchen Schein und welchen Geldwert sie in der Hand hält.“Und sie berichtet von weiteren Tricks, um Alltägliches zu überlisten. So wird Post kurzerhand eingescannt. „Der Computer hat eine Sprachausgabe, welche den Inhalt dann vorliest“, erklärt Tessy. Wenn ihr Frauchen einen Brief schreibt, schaue das übrigens aus, wie bei einem Sehenden. Allerdings sei die Tastatur bei bestimmten Buchstaben mit einem Punkt gekennzeichnet. „Wenn etwas zu korrigieren ist, geht sie mithilfe der Sprachausgabe oder der Braillezeile zu der Stelle, wo sie etwas löschen oder einfügen möchte.“Mit einer Computermaus können blinde Menschen allerdings nicht arbeiten.
Tessy spricht Orientierungsund Mobilitätstraining an, ihre Schulbesuche, bei denen Frauchen vor Kindern über ihre Behinderung referiert, vom Einzug der Graupapageien Cora und Cocco, sie informiert über die Flaschenkinder Max und Moritz, den Tod Timbas, ihr Rentendasein und ihblonde ren Nachfolger Filou. Das Büchlein endet zeitlich 2015, mit Tessys Ableben.
Das Schreiben aus der Sicht der Blindenführhündin habe bei ihr viele Erinnerungen wachgerufen, gesteht Gerstl. „Es hat mir deutlich die Prozesse aufgezeigt, die mein Mann und ich angestoßen und entwickelt haben, aber auch die Stärken und Schwächen.“Und es habe ihr ein großes Stück Selbstwert gegeben. „Egal, was kommt, alles ist für irgendetwas gut“, resümiert sie und signalisiert damit Mut zum Leben.
Nach dem Tod von Tessy hat sich bei den Gerstls einiges getan. 2016 unterzog sich Ehemann Joe, der infolge eines Unfalls mit ungelöschtem Kalk erblindet war, einer Augenoperation. Seitdem sehe er wieder etwas, so Rosmarie Gerstl. Doch diese Situation sei an ihr nicht spurlos vorüber gegangen. Der neue Zustand habe sie anfangs psychisch belastet, nach eigenen Worten „frustriert und auch neidisch“gemacht. Doch das sei eine andere Geschichte. „Vielleicht verarbeite ich sie in einem dritten Büchlein“, sagt sie.