Warum Merkel jetzt die Mutti gibt
Fast 15 Jahre lang hat sich die Kanzlerin große Emotionen verkniffen. In der Corona-Krise brechen diese aus ihr heraus – sie könnten eher Gegenreaktionen auslösen
Angela Merkel als „Mutti“zu bezeichnen, wie es Spötter gerne tun, ist nicht nur unverschämt. Es ist auch irreführend. Denn mütterliche Regungen hat die Bundeskanzlerin in fünfzehn Amtsjahren wirklich selten gezeigt. Fakten waren der Physikerin stets wichtiger als betonte Fürsorge.
Das ändert sich in der CoronaKrise. Zwar hat Merkel im Bundestag am Mittwoch wieder bekräftigt, sie glaube an Wissenschaft und an Fakten, die man nicht manipulieren könne. Aber in ihrem drängendsten Appell vertraute sie dem Gefühl – und flehte ihre Bürger beinahe mütterlich an, bloß auf Abstand zu gehen und daheim zu bleiben, damit die Pandemie nicht außer Kontrolle gerate.
Ist das menschlich verständlich? Gewiss, gerade im zehnten Monat einer Krise, die selbst für die geübte Krisenmanagerin Merkel die Mutter aller Krisen darstellt. Ist es deswegen auch effektiv? Wie jeder Erziehungsberechtigte weiß, kann gerade dieses mütterliche Flehen leicht Widerstände auslösen bei jenen, die erzogen werden sollen.
„Der darf das aber auch“, ist so ein Reflex, den viele Eltern hören. Auch zahlreiche (ausgangsbeschränkte) Bürger zeigen in Corona-Zeiten auf andere, die doch noch etwas dürften, einkaufen oder mit der Bahn fahren. „Warum gerade ich?“, lautet ein anderer Abwehrreflex. Darauf berufen sich jene, die lieber gezielter Risikogruppen Corona-Einschränkungen unterwerfen würden statt die ganze Bevölkerung. „Und was hast du gemacht?“ist vielleicht der gemeinste dieser Konter gegen Erziehungsversuche. Auch diesen Vorwurf muss sich Merkel gefallen lassen. Sie ist Chefin jener Minister, die sie im Bundestag schalt. Ihre Bundesregierung hat den Sommer (mit) verschlafen und hinkt bei technologischen CoronaLösungen hinterher.
All das ergibt die Crux der Merkel’schen Gefühlsoffensive. Die Kanzlerin zeigt endlich Emotionen, die ihr so lange abverlangt wurden, sie brechen beinahe aus ihr heraus. Aber das Resultat könnte ihre alte These belegen: dass Emotionen in der Politik wenig bringen.