Koenigsbrunner Zeitung

Warum Merkel jetzt die Mutti gibt

Fast 15 Jahre lang hat sich die Kanzlerin große Emotionen verkniffen. In der Corona-Krise brechen diese aus ihr heraus – sie könnten eher Gegenreakt­ionen auslösen

- VON GREGOR PETER SCHMITZ gps@augsburger‰allgemeine.de

Angela Merkel als „Mutti“zu bezeichnen, wie es Spötter gerne tun, ist nicht nur unverschäm­t. Es ist auch irreführen­d. Denn mütterlich­e Regungen hat die Bundeskanz­lerin in fünfzehn Amtsjahren wirklich selten gezeigt. Fakten waren der Physikerin stets wichtiger als betonte Fürsorge.

Das ändert sich in der CoronaKris­e. Zwar hat Merkel im Bundestag am Mittwoch wieder bekräftigt, sie glaube an Wissenscha­ft und an Fakten, die man nicht manipulier­en könne. Aber in ihrem drängendst­en Appell vertraute sie dem Gefühl – und flehte ihre Bürger beinahe mütterlich an, bloß auf Abstand zu gehen und daheim zu bleiben, damit die Pandemie nicht außer Kontrolle gerate.

Ist das menschlich verständli­ch? Gewiss, gerade im zehnten Monat einer Krise, die selbst für die geübte Krisenmana­gerin Merkel die Mutter aller Krisen darstellt. Ist es deswegen auch effektiv? Wie jeder Erziehungs­berechtigt­e weiß, kann gerade dieses mütterlich­e Flehen leicht Widerständ­e auslösen bei jenen, die erzogen werden sollen.

„Der darf das aber auch“, ist so ein Reflex, den viele Eltern hören. Auch zahlreiche (ausgangsbe­schränkte) Bürger zeigen in Corona-Zeiten auf andere, die doch noch etwas dürften, einkaufen oder mit der Bahn fahren. „Warum gerade ich?“, lautet ein anderer Abwehrrefl­ex. Darauf berufen sich jene, die lieber gezielter Risikogrup­pen Corona-Einschränk­ungen unterwerfe­n würden statt die ganze Bevölkerun­g. „Und was hast du gemacht?“ist vielleicht der gemeinste dieser Konter gegen Erziehungs­versuche. Auch diesen Vorwurf muss sich Merkel gefallen lassen. Sie ist Chefin jener Minister, die sie im Bundestag schalt. Ihre Bundesregi­erung hat den Sommer (mit) verschlafe­n und hinkt bei technologi­schen CoronaLösu­ngen hinterher.

All das ergibt die Crux der Merkel’schen Gefühlsoff­ensive. Die Kanzlerin zeigt endlich Emotionen, die ihr so lange abverlangt wurden, sie brechen beinahe aus ihr heraus. Aber das Resultat könnte ihre alte These belegen: dass Emotionen in der Politik wenig bringen.

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Foto: Kay Nietfeld Eindringli­ch und emotional appelliert­e Kanzlerin Angela Merkel an die Bürger, alles zu tun, damit die Pandemie nicht außer Kontrolle gerät.

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