Selma Lagerlöf: Der Fuhrmann des Todes (6)
Silvesternacht. Stark alkoholisiert bricht David auf einem Friedhof zusammen. Der Volksmund weiß: Der letzte Tote eines Jahres wird als Fuhrmann des Todes für zwölf Monate die Seelen Sterben der erlösen müssen. Eine Schauergeschichte mit sozialem Appell der ersten Literaturnobelpreisträgerin. © Projekt Gutenberg
Ja, wenn das Geräusch vernehmlich gewesen wäre, würden die Herzen aller derer, die in dieser Nacht in ihren stillen Heimstätten wachten und sich Rechenschaft über ihr Tun und Lassen im vergangenen Jahre ablegten, im Bewußtsein ihres Unvermögens und ihrer Schwachheit von Verzweiflung zerrissen worden sein!
Es ist ein Glück, daß das Geräusch nur für einen einzigen Menschen vernehmlich ist, und daß dieser eine Mensch zu denen gehört, die es recht wohl nötig haben, in Angst, Gewissensqual und Selbstverachtung gestürzt zu werden, wenn es überhaupt noch möglich ist.
IV
Der Mann, der den schweren Blutsturz gehabt hat, liegt noch auf dem Boden und gibt sich alle Mühe, wieder zum Bewußtsein zu kommen. Es ist ihm, als wecke ihn etwas, als fliege ein Vogel, oder was es sonst sein mag, mit lautem Geschrei über seinen Kopf hin. Aber es ist ihn eine schöne, angenehme Ruhe überkommen, aus der er sich nicht losreißen kann.
Gleich darauf ist er überzeugt, daß das Geräusch nicht von einem Vogelschrei herrühren kann, sondern daß es der Totenkarren ist, dessen Geschichte er den beiden Landstreichern erzählt hat; dieser fährt jetzt durch die Kirchenanlagen und knirscht und rasselt so schrecklich, daß der Mann nicht schlafen kann. Aber halb unbewußt weist er, während er ruhig auf dem Boden liegt, den Gedanken, es könnte der Totenkarren sein, doch von sich. So etwas bildet er sich ja nur ein, weil er erst vorhin an ihn gedacht hatte.
Er versinkt von neuem in eine Art Schlummerzustand, aber das hartnäckige Knirschen dringt wieder schneidend durch die Luft und laßt ihm keine Ruhe. Jetzt wird ihm auch plötzlich klar, daß das, was er hört, von einem wirklichen Gefährt herrührt. Nein, das ist keine Einbildung, es ist volle Wirklichkeit, und so kann er nicht hoffen, daß es bald aufhören werde. Und da wird ihm etwas klar; es hilft alles nichts, er muß sich entschließen, aufzuwachen. Er merkt sofort, daß er noch immer auf demselben Rasenplatz liegt wie zuvor und ihm also niemand zu Hilfe gekommen ist. Alles scheint noch unverändert zu sein, nur wiederholt dringt ein ächzender, knirschender Ton durch die Luft. Der Ton scheint aus weiter Ferne zu kommen, ist aber überaus langgezogen und dringt ihm schneidend scharf in die Ohren, und er weiß nun auch genau, daß dieser Laut es ist, der ihn geweckt hat.
Er fragt sich, ob er wohl lange bewußtlos dagelegen habe, was ihm aber nicht wahrscheinlich vorkommt. Er hört, wie sich die Leute, die in nächster Nähe umherwandern, Prosit Neujahr zurufen, und schließt daraus, daß es noch nicht lange nach Mitternacht sein kann.
Der ächzende, knirschende Ton dringt einmal ums andere an sein Ohr, und da der Mann von jeher sehr empfindlich gegen gellende, kreischende Töne gewesen ist, denkt er, es wäre gut, wenn er einen Versuch zum Aufstehen machen und fortgehen würde, damit er dieses Unwesen nicht mehr hören müßte. Ja, einen Versuch könnte er doch wenigstens machen, jetzt beim Aufwachen fühlt er sich wieder ganz wohl. Er hat nicht mehr das Gefühl, als habe er eine offene, klaffende Wunde in der Brust. Es friert ihn nicht mehr, und er fühlt sich auch nicht mehr matt, fühlt überhaupt seinen Körper gar nicht, sondern es ist ihm ganz so zumut, wie es zu sein pflegt, wenn man vollkommen gesund ist.
Er liegt noch immer auf der Seite, wie er sich hingeworfen hat, als der Blutsturz anfing, und nun will er sich zuerst auf den Rücken legen und versuchen, was sein gebrechlicher Körper aushalten kann.
,Jetzt richte ich mich vorsichtig auf den Ellbogen auf, drehe mich um und lasse mich wieder zurücksinken,‘ denkt er.
Der Mann ist, wie alle andern Menschen auch, gewohnt, sobald der Gedanke sagt: „Nun tue ich dies oder das,“es auch in demselben Augenblick bewerkstelligt zu haben. Aber diesmal widerfährt ihm etwas Seltsames: sein Körper bleibt ganz ruhig liegen, ohne die vorgeschriebenen Bewegungen auszuführen; vollkommen unbeweglich liegt er da.
,Wäre es denn möglich, daß ich sehr lange dagelegen habe und nun zu Eis erstarrt bin?‘ denkt der Mann.
Aber wenn er so hartgefroren wäre, müßte er ja tot sein, und er lebt doch, er sieht und hört ja. Und außerdem herrscht auch gar keine eigentliche Kälte, denn von den Bäumen über ihm tropft und rieselt es ja auf ihn herunter.
Der Mann ist von dem Gedanken, was für eine seltsame Lähmung sich seiner bemächtigt habe, ganz erfüllt, und so hat er eine Weile das quälende Knirschen vergessen. Aber plötzlich hört er es aufs neue.
,Ja, nun kannst du dir alle weitere Überlegung, wie du dieser Musik entgehen könntest, sparen, David,‘ denkt er. ,Jetzt mußt du es eben aushalten, so gut es geht.‘
Für jemand, der sich eben noch frisch und tatkräftig und nicht ein bißchen krank gefühlt hat, ist es nicht leicht, ruhig und geduldig daliegen zu müssen, und der Mann macht unaufhörliche Versuche, wenigstens einen Finger zu bewegen oder die Augenlider zu heben. Aber das eine ist ihm ebenso unmöglich wie das andere, und er fragt sich unwillkürlich, wie er es denn früher gemacht habe, wo er den vollen Gebrauch seiner Glieder hatte. Er denkt, er müsse diese Kunst durch irgendeinen Unfall vergessen haben.
Während der ganzen Zeit kommt das Knirschen immer näher. Jetzt ist es nicht mehr weit entfernt; er hört, daß es von einem Gefährt herrührt, das ganz langsam durch die Lange Straße nach dem Marktplatz fährt. Und ein elender Schinderkarren muß es sein, so viel ist sicher. Jetzt hört man nicht nur das Knirschen der ungeschmierten Räder, sondern auch das Krachen im Holz und wie das Pferd bei jedem Schritt auf dem Straßenpflaster ausgleitet. Wahrhaftig, wenn der erbärmliche Totenkarren, vor dem sein alter Kamerad so eine Heidenangst gehabt hatte, dahergefahren käme, es könnte sich nicht schlimmer anhören.
,Du und ich, David,‘ denkt der Mann, ›wir beide brauchen zwar keine besondere Sehnsucht nach der Polizei zu haben; aber wenn sie jetzt aufpassen und dem Unwesen ein Ende machen würde, so würden wir uns doch recht schön bei ihr bedanken.‹ Der Mann pflegt sich mit seinem stark ausgeprägten Sinn fürs Komische zu brüsten, aber jetzt fängt er doch an zu fürchten, diese Knirschmusik im Verein mit allem andern, was ihm in dieser Nacht widerfahren ist, könnte seinem Humor den Garaus machen. Allerlei widerwärtige Überlegungen gehen ihm durch den Kopf: wenn er jetzt, wie er so daliegt, gefunden wird, könnte er für tot gehalten und lebendig eingesargt und begraben werden.
„Und dann mußt du alles, was um deinen Leichnam herum gesprochen wird, mit anhören, und das klingt vielleicht auch nicht schöner als der Spektakel, den du jetzt anhören mußt,“sagt er zu sich selbst.
»7. Fortsetzung folgt