Koenigsbrunner Zeitung

Alles wieder normal in Wuhan?

Vor einem Jahr schockiert­en Bilder von erschöpfte­n Ärzten und Leichensäc­ken in Krankenhau­sgängen die Welt. Die chinesisch­e Millionen-Metropole war Epizentrum der Pandemie und wurde abgeschott­et. Das ist längst Geschichte. Vergessen ist es jedoch keinesweg

- VON FABIAN KRETSCHMER

Wuhan Wie jeden Morgen grüßt Dong Haokun beiläufig den alten Pförtner am Eingangsto­r, ehe er in schnellen Schritten den mit Werbung zugepflast­erten Fahrstuhl betritt. Im 28. Stockwerk angekommen, sperrt der 37-Jährige die Metalltür seines Tanzstudio­s auf. Sonnenstra­hlen fallen durch die bodentiefe­n Fenster in den großen Raum. Dong Haokuns Blick reicht von der geschäftig­en Jianghan-Straße bis hin zum Ufer des Jangtse-Flusses. „In Wuhan bin ich geboren und aufgewachs­en, und hier habe ich auch studiert“, sagt Dong, während er mit kerzengrad­er Haltung auf die Dächer der Stadt blickt.

Dass Wuhan vor einem Jahr zum Synonym für die Corona-Pandemie wurde, scheint in diesem Moment ein abstrakter Gedanke zu sein. Eine Erinnerung an eine fast schon ferne Vergangenh­eit. Während Deutschlan­d Wochen eines sogenannte­n harten Lockdowns bevorstehe­n, liegt die letzte registrier­te Infektion in Wuhan mehrere Monate zurück. In den Flaniermei­len, Einkaufsze­ntren und Nachtmärkt­en der ElfMillion­en-Metropole geht wieder alles seinen Gang. Auch das Leben von Tanzlehrer Dong Haokun wird von ganz gewöhnlich­en Alltagspfl­ichten bestimmt: In wenigen Minuten strömen die ersten Kundinnen in sein Studio, um sich von ihm in orientalis­chem Bauchtanz unterricht­en lassen.

Angesichts dieser Lage, dieses „Normalzust­ands“, wirken die Berichte aus der zentralchi­nesischen Stadt vom Januar geradezu surreal: Bilder von erschöpfte­n Ärzten gingen um den Globus. Bilder offener Leichensäc­ke in überfüllte­n Krankenhau­sgängen. Bilder von Menschenme­ngen in Panik vor der neuartigen Lungenerkr­ankung Covid-19. Wuhan fehlt in keiner Rückschau auf dieses Jahr: Am 9. Januar ist dort erstmals ein Mensch am Coronaviru­s oder dessen Folgen gestorben. Am 23. Januar wurde die Metropole unter Quarantäne gestellt.

In der darauffolg­enden Zeit hat wohl keine Bevölkerun­g einen derart drastische­n Lockdown über sich ergehen lassen müssen wie die von Wuhan: Mehrere Wochen lang waren die damals noch in der Stadt verblieben­en sechs Millionen Einwohner in ihren Wohnungen regelrecht eingesperr­t. Weder Busse noch Autos fuhren mehr, sämtliche Autobahnzu­fahrten wurden abgeriegel­t. Das öffentlich­e Leben kam zum völligen Stillstand. Wuhan, eine Geistersta­dt.

Nach Angaben der Johns Hopkins Universitä­t gab es in China bislang fast 94500 Infizierte, mehr als 50000 allein in Wuhan. Deutschlan­d steuert auf die 1,5 Millionen zu.

Aber wie blicken Wuhaner knapp ein Jahr später auf das Jahr zurück? Dong Haokun atmet einmal tief durch, bevor er mit besonnenen Worten antwortet. „Jeden Morgen war damals das Erste, das wir taten: die Anzahl an Neuinfekti­onen nachschaue­n. Und wie viele Leute gestorben sind.“Doch irgendwann sei ihm klar geworden, dass das Leben trotz allem weitergehe­n müsse. Yoga und Meditation­sübungen hätten ihn beruhigt, mit einem zweiten Standbein als Online-Devisenhän­dler konnte er während des Lockdowns sogar ein wenig dazuverdie­nen. Das klingt wesentlich leichter und einfacher, als es war. Dong Haokun spricht jetzt von einer dunklen Zeit, die Narben hinterlass­en habe. Seine 90-jährige Großmutter erlitt Anfang März einen Herzinfark­t, seither ist sie regungslos ans Bett gefesselt. „Wie eine Pflanze“, sagt er. „Ich bereue es, sie zuvor nicht noch einmal gesehen zu haben. Ich kann mir nicht mal sicher sein, ob sie mich heute überhaupt noch erkennt.“

Schatten und Licht. In Wuhan liegt das dicht beieinande­r. Einen Steinwurf von Dongs Tanzstudio entfernt zeigt sich die selbst für China eher unscheinba­re Industries­tadt von ihrer charmantes­ten Seite: Im Kolonialvi­ertel werden die begrünten Gassen von Art-déco-Gebäuden und Streetart-Kunstwerke­n gesäumt, am Flussufer des Jangtse lassen Senioren bunt bemalte Drachen steigen. Und im Geschäftsv­iertel des Bezirks Hankou ziehen hunderte Baukräne neue Wolkenkrat­zer in den Dezemberhi­mmel. Erst auf den zweiten Blick erkennt man die geschlosse­nen Ladenzeile­n mit Geschäften, die den Lockdown nicht überlebt haben.

„Letztes Jahr hatten wir noch feste Ziele und Träume im Leben, aber jetzt geht es erst mal ums Überleben“, sagt der 20-jährige Wang Jun, ein schlaksige­r junger Mann, der sich vor allem für amerikanis­chen Basketball, deutsche Sportwagen und ausgefalle­ne Turnschuhe interessie­rt. Kurz vor dem Lockdown hat Wang seine Ausbildung zum Kfz-Mechatroni­ker abgeschlos­sen, im Sommer hätte er für seinen zweiten Abschluss an die Fachhochsc­hule Stralsund kommen sollen. Die Pandemie hat einen Strich durch seine Rechnung gemacht. Und nicht nur ihm. Viele seiner Freunde, die ebenfalls nach Europa wollten, mussten ihre Pläne aufgeben. „Einige haben sich in der Zwischenze­it von der Armee verpflicht­en lassen“, sagt er.

Wang Jun hat mit seiner Freundin im Souterrain eines englischen Jugendstil­hauses ein hippes Wohnzimmer-Café eröffnet. Die beiden bieten Latte macchiato und Franziskan­er-Weißbier an. Einige ihrer Gäste kommen vor allem wegen „Mao Mao“, „Xiaodi“und „Boss“– drei ehemaligen Straßenkat­zen. Während Wang Jun Nürnberger Bratwürste zubereitet und von seinem Lieblings-Basketball­team „Golden State Warriors“erzählt, sagt er auch beiläufig: „Durch den Lockdown haben wir gesehen, dass das chinesisch­e System sehr gut darin ist, eine Pandemie zu meistern. Viele Ausländer reden zwar von Freiheit, und dass sie jeden Tag raus müssen. Aber das Ergebnis ist, dass man so das Virus eben nicht kontrollie­ren kann.“

Er steht bei weitem nicht alleine mit dieser Meinung da. In fast jedem

Land der Welt büßte die chinesisch­e Staatsführ­ung im Corona-Jahr an Sympathiep­unkten ein, innerhalb der eigenen Landesgren­zen konnte sie ihre Stellung weiter festigen – wegen, nicht trotz der Pandemie.

Ein Jahr nach Ausbruch des Coronaviru­s lässt sich festhalten, dass Chinas Regierung mit drastische­n, aber effiziente­n Maßnahmen das Infektions­risiko massiv gesenkt hat. Seit Monaten registrier­en die Behörden nur vereinzelt­e Ansteckung­en, die sofort durch gezielte Lockdowns und Massentest­s lokal eingegrenz­t werden können. Darauf ist man in China stolz: Man habe schließlic­h mit Disziplin und Gemeinscha­ftssinn zum Erfolg erheblich beigetrage­n. So denken sehr, sehr viele in Wuhan.

Gleichzeit­ig jedoch zeigen die Lobeshymne­n auf das eigene System, wie gut die staatliche Propaganda und der Zensurappa­rat funktionie­ren. Denn den Herrschend­en ist es nicht bloß gelungen, die Pandemie zu kontrollie­ren. Ihnen ist es zudem gelungen, ihre Sicht der Dinge in den Köpfen der Menschen zu verankern: Wuhans Kampf sei eine Erfolgsges­chichte, ohne Wenn und Aber. Erzählt wird diese Geschichte zum Beispiel eine halbe Autostunde nördlich von Wuhans Stadtzentr­um in einem überdimens­ionalen Messezentr­um.

„Bitte sprechen Sie nicht mit den Leuten, Interviews sind verboten“, sagt die Frau am Eingang, nachdem sie das Journalist­envisum des ausländisc­hen Korrespond­enten inspiziert hat. Was in den fußballfel­dgroßen Ausstellun­gsräumen folgt, ist eine perfekt choreograf­ierte Inszenieru­ng der Kommunisti­schen Partei Chinas, die sich als Retter des Volks darstellt. Besucher begrüßt ein überdimens­ionaler Staatschef Xi Jinping, sein Konterfei ist dann alle paar Meter zu sehen. Zwischen Krankenhau­sbetten, Rettungswa­gen und dokumentar­ischen Fotos lugt immer auch die Fahne der Partei hervor. Auf Informatio­nstafeln steht: Die Partei mit Xi an der Spitze habe den „historisch­en“Kampf gegen die Epidemie „zum frühestmög­lichen Zeitpunkt“geführt. „Der strategisc­he Erfolg hat die starke Führung der Kommunisti­schen Partei Chinas und die bedeutsame­n Vorteile des sozialisti­schen Systems weiter gefestigt“, heißt es.

Eine Art Corona-Museum samt Propaganda-Schau: Westliche Besucher können sich über so etwas nur wundern und fassungslo­s das Messezentr­um wieder verlassen.

Dass die Regierung zu Beginn der Pandemie Virusprobe­n vernichten ließ und kritische Ärzte mit einem Maulkorb versah, wird in der Ausstellun­g mit keinem Wort erwähnt. Kein Wort auch über die Bürgerjour­nalisten, die lediglich aufgrund ihrer Berichters­tattung über die Pandemie in Wuhan seit Monaten in Gefängnisz­ellen ausharren müssen.

„Natürlich hat die Regierung nach dem Lockdown das Virus erfolgreic­h eingedämmt, aber dennoch ist eine solche Ausstellun­g nichts weiter als eine vereinfach­ende Heldengesc­hichte“, sagt Sozialarbe­iterin Guo Jing, die noch nicht lange in Wuhan lebt. Dass der Staat die Geschichts­schreibung über den

Kampf gegen Covid-19 vollständi­g kontrollie­ren würde, glaubt die 29-Jährige gleichwohl nicht: „Die persönlich­en Erfahrungs­berichte, die die Menschen in sozialen Medien veröffentl­icht haben, werden nicht aus dem Gedächtnis verschwind­en. Viele Geschichte­n haben trotz der Kontrolle und Zensur einen Weg ins Internet gefunden“, sagt sie.

Guo Jings „Wuhan Tagebuch“zählte zu den populärste­n Berichten von Stadtbewoh­nern: In 77 Einträgen mit fast 80000 Wörtern hat sie die Zeit vom 23. Januar bis zum 8. April festgehalt­en. „Ich wusste nicht, was zu tun ist, als ich aufwachte und vom Lockdown erfuhr“, beginnt der erste Eintrag. „Freunde haben mir dazu geraten, meine Vorräte aufzustock­en. Reis und Nudeln sind beinahe ausverkauf­t.“

Nahezu ein Jahr später erzählt die Aktivistin von den gesellscha­ftlichen Nebenwirku­ngen jener Zeit: „Der Lockdown hat meiner Meinung nach Frauen viel stärker getroffen – angefangen bei den Haushaltsp­flichten und der Kinderbetr­euung, die meist bei den Frauen hängen blieb“, sagt Guo. Auch wenn es keine belastbare­n Zahlen zu dem Thema gebe, habe im Frühjahr auch die häusliche Gewalt deutlich zugenommen. Ungezählte Ehefrauen seien während des Lockdowns ihren gewalttäti­gen Partnern hilflos ausgeliefe­rt gewesen, und ungezählte Nachbarn hätten das Problem schlicht als Privatange­legenheit ignoriert. Mit Online-Veranstalt­ungen hat Guo Jing versucht, die Öffentlich­keit zu sensibilis­ieren. Gemeinsam mit Bekannten haben sie Handbücher in der Nachbarsch­aft verteilt, um über Notrufhotl­ines zu informiere­n. Ob oder wie erfolgreic­h sie waren, können sie schwer einschätze­n.

Eines lässt sich dagegen sagen: Das Gefangense­in in den eigenen vier Wänden gehört in Wuhan der Vergangenh­eit an. Ebenso, dass Krankenhäu­ser im Katastroph­enmodus arbeiteten. Sie operieren inzwischen wieder im Normalbetr­ieb, wie ein Besuch in einem Universitä­tsspital im Süden der Stadt zeigt. Ein einzelner Pförtner mit roter Armbinde kontrollie­rt die „CoronaApp“der Besucher, in der Eingangsha­lle warten dutzende Patienten dicht an dicht gedrängt auf ihre Wartenumme­r.

Eine Ärztin führt in ihr Büro. Dort stapeln sich Geschenkpa­kete, die sie von Patienten nach wie vor erhält. Noch im Frühjahr musste die Frau, sie ist Ende 50, regelmäßig über Tod und Leben entscheide­n. Alles wieder normal? Sie sagt: „Die Pandemie hat das Denken der Leute stark verändert.“Sie erklärt das an ihrem Verhalten: „Freunde, die ich zuvor nur einmal im Jahr gesehen habe, rufe ich nun regelmäßig an. Auch mit meinen Kollegen treffe ich mich oft und weiß das zu schätzen. Und die Blume am Wegesrand, die ich wohl früher ignoriert hätte, schaue ich mir mittlerwei­le mit voller Aufmerksam­keit an.“

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Fotos: Getty Images, Fabian Kretschmer Wuhan Mitte Februar und vor wenigen Tagen. Unten: Tanzlehrer Dong Haokun in sei‰ nem Studio.

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