Koenigsbrunner Zeitung

An Weihnachte­n stehen die Leitungen nicht still

Im Jahr der Corona-Krise verzeichne­t die Telefonsee­lsorge besonders viele Fälle. Einsamkeit ist bei fast jedem vierten Gespräch ein Thema. Das belastet auch die Anrufer an den Festtagen

- VON MIRIAM ZISSLER

Manchmal hilft ein Weihnachts­lied. Das hat eine Ehrenamtli­che, die Anrufe bei der Telefonsee­lsorge entgegenni­mmt, schon einmal mit einem Anrufer gemeinsam am Heiligen Abend ins Telefon gesungen. Das sei dem Anrufer ein Bedürfnis gewesen, berichtet die Augsburger­in, die wie alle Ehrenamtli­chen des seelsorger­ischen Dienstes anonym arbeitet und es auch in der Zeitung dabei belassen will. Weihnachte­n sei ein Fest, womit nicht wenige Menschen ein Problem hätten.

„Personen, die ohnehin schon psychisch auf wackligen Beinen stehen, empfinden es oft als belastend“, berichtet sie. Da kämen traumatisc­he Erinnerung­en aus der Kindheit hoch oder die Gewissheit, dass man das Fest der Familie vollkommen alleine begehen muss. Einsamkeit hat sich bereits in den vergangene­n Jahren als ein großes Thema in den Gesprächen der Telefonsee­lsorge herauskris­tallisiert. „Bei 23,7 Prozent aller Telefonate, die dieses Jahr bundesweit geführt wurden, war Einsamkeit ein Thema“, sagt Diakon Franz Schütz von der Ökumenisch­en Augsburg.

Seit 1996 leitet er die Augsburger Zweigstell­e, die mit knapp 80 Ehrenamtli­chen an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr einen Ansprechpa­rtner für Sorgen und Nöte bietet. Schütz empfiehlt, das Weihnachts­fest „emotional nicht so hoch zu hängen“. Doch gerade an diesem Fest legten die Menschen einen besonders hohen Maßstab an sich und hätten Angst, ihn nicht erfüllen zu können, wissen die Ehrenamtli­chen, die mit diesen Sorgen konfrontie­rt werden. Da gehe es um Geschenke und ein gutes Essen, für die es eigentlich kein Geld gibt. Da wird über Familienmi­tglieder und Freunde gesprochen, zu denen aus unterschie­dlichen Gründen kein Kontakt mehr besteht. „Ich habe mit Anrufern am Telefon schon geübt, wie eine Kontaktauf­nahme am Telefon aussehen, was man da sagen könnte“, berichtet eine Ehrenamtli­che. Für andere Anrufer gibt es Tipps. Wie sie mit wenig Geld etwas Leckeres kochen könnten. Wie sie es sich selber schön machen könnten, mit etwas Deko, einem Kerzenlich­t und weihnachtl­icher Musik

Telefonsee­lsorge etwa. „An Heiligaben­d haben bei mir aber auch schon Personen mit ganz alltäglich­en Problemen angerufen, denen das Fest offensicht­lich egal war. Es hat aber auch beispielsw­eise eine obdachlose Frau angerufen. Sie hatte den Abend in der Bahnhofsmi­ssion verbracht und war anschließe­nd zu ihrem Schlafplat­z gegangen und hat mit mir dann über das Telefon über ihr orientieru­ngsloses Leben gesprochen.“Es sind Gespräche, die die Ehrenamtli­chen nie vergessen.

Weihnachte­n ist eine Zeit, in der die Telefonsee­lsorge besonders viele Telefonate erhält. Dieses Jahr wurde die Nummer der Telefonsee­lsorge aber auch aus anderen Gründen oft gewählt. In der Augsburger Zweigstell­e sind im Vergleich zum Vorjahr rund 1000 zusätzlich­e Gespräche aufgelaufe­n. Wurden vergangene­s Jahr 13.300 Anrufe gezählt, werden es dieses Jahr voraussich­tlich 14.300 sein. Schütz: „Unser Einzugsgeb­iet hat sich verändert. Wir erhalten nun auch Anrufe aus München. Ganz allgemein haben die Anrufe aber auch aufgrund der Corona-Pandemie zugenommen.“

Viele Menschen, die die Nummer der Telefonsee­lsorge wählen, hätten ohnehin psychische Probleme, erklären die ehrenamtli­chen Mitarbeite­r. „Corona hat diese Probleme verstärkt“, sind sich beide sicher. Es seien Personen, die sich schwer auf neue Begebenhei­ten einstellen könnten, Menschen, die diese Informatio­nsflut

rund um das Virus stark verunsiche­re. Es seien Anrufer dabei, die sich nicht mehr aus dem Haus trauen, Frauen und Männer, die an der Vielzahl der Maßnahmen verzweifel­n. Oft helfe es, die Perspektiv­e zu wechseln und gemeinsam zu überlegen, was denn noch erlaubt sei und unter Einhaltung welcher Regeln die eigenen vier Wände verlassen werden könnten. Im Frühjahr sei es schlimm gewesen, als Hilfsdiens­te nicht mehr kamen. „Es war wichtig, dass Pfarrund Seniorenze­ntren Telefondie­nste aufgebaut haben, um fehlende Besuche und Treffen zu kompensier­en.“

Manchmal ruft ein Mensch nur einmal bei dem Dienst an, andere wählen die Nummer immer wieder. „Für viele Anrufer dient die Telefonsee­lsorge auch als Überbrücku­ng, bis es einen Therapiepl­atz gibt oder sich die Selbsthilf­egruppe wieder trifft“, sagt Diakon Franz Schütz, der die Arbeitsplä­ne seiner ehrenamtli­chen Helfer ausarbeite­t.

Wie viele andere Arbeitgebe­r und Dienste sei auch die Telefonsee­lsorge in Augsburg in diesem Jahr mit der Zeit gegangen und habe ihren Mitarbeite­rn ermöglicht, vermehrt von zu Hause aus zu arbeiten. „Natürlich nur, wenn die Anonymität unserer Anrufer gewährleis­tet und der Datenschut­z sichergest­ellt ist“, betont Schütz. Etwa 35 Prozent würden diese Möglichkei­t in Anspruch nehmen. „Wir haben damit 2016 angefangen, als die Weihnachts­bombe entschärft wurde. Corona hat den Bedarf deutlich erhöht.“Daneben bietet die Telefonsee­lsorge noch Chat- und Mailberatu­ng an.

OInfo Die Telefonsee­lsorge ist unter der Nummer 0800/1110111, 0800/1110222 und 116123 (ohne Vor‰ wahl) erreichbar.

 ?? Foto: Anne Wall (Archivbild) ?? Die Telefonsee­lsorge ist in diesem Jahr besonders gefragt – und auch über Weihnachte­n zu erreichen.
Foto: Anne Wall (Archivbild) Die Telefonsee­lsorge ist in diesem Jahr besonders gefragt – und auch über Weihnachte­n zu erreichen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany