„Weihnachtsfest ist ein massiver Verbreitungsort“
Thorsten Lehr ist Experte für Infektionswege. Mit seinem Team hat er einen Covid-Simulator entwickelt. Was dieser für Bayern vorhersagt und warum auch der Impfstoff noch keine schnelle Entspannung bringen wird
Herr Professor Lehr, Sie haben mit Ihrem Team an der Universität des Saarlandes einen Covid-Simulator entwickelt, der Daten aus den verschiedensten Bereichen und Quellen wie dem Robert-Koch-Institut, den Krankenhäusern, aber auch den Landkreisen verarbeitet und bewertet. Was sagt er für Bayern für die nächsten Wochen voraus? Steigt die Kurve? Professor Thorsten Lehr: Die Entwicklung hängt sehr stark davon ab, wie der verschärfte Lockdown von der Bevölkerung umgesetzt wird. Wir erwarten, dass nach Start des verschärften Lockdowns die 7-Tage-Inzidenz in Bayern wie auch in allen anderen Bundesländern noch fünf bis sieben Tage weiter ansteigen wird und nach Erreichen des Scheitelpunktes langsam sinkt.
Bis zum 10. Januar ist jetzt erst einmal alles geschlossen, reicht Ihren Berechnungen nach der harte Lockdown bis dahin oder muss verlängert werden? Lehr: Wir erwarten schon, dass dieser harte Lockdown nun einen Effekt hat. Das können wir auch aufgrund von Vergleichen mit anderen Ländern sagen. Die Frage aber wird hier sein, welcher Inzidenzwert angestrebt wird. Auch ist die Lage von Bundesland zu Bundesland verschieden. Für das gesamte Bundesgebiet haben wir errechnet, dass wir den Wert von 50 Fällen pro 100 000 Einwohner in sieben Tagen am 20. oder 21. Januar erreichen.
Und in Bayern?
Lehr: Da ist es ähnlich. Lassen Sie mich aber betonen: Einen Inzidenzwert von 50 erreichen wir in der dritten Januarwoche nur, wenn es gut läuft und wenn das Weihnachtsfest die Infektionszahlen nicht nach oben treibt. Die Lockerungen an Weihnachten könnten nämlich zur Folge haben, wie wir berechnet haben, dass ein Inzidenzwert von 50 erst am 1./2. Februar erreicht wird. Schließlich gilt ja generell, was an Regeln beschlossen wird, ist das eine, was aber auch wirklich von den Menschen umgesetzt wird, das andere.
Sie haben also Zweifel an der Disziplin der Menschen?
Lehr: Das sagt uns die Erfahrung. Der erste Lockdown wirkte sich beispielsweise ganz anders aus als der Lockdown light jetzt. Das hat man doch schon in den Städten gesehen: Trotz Lockdown light war vielerorts business as usual angesagt. Und mit Blick auf das Weihnachtsfest kann ich nur eindringlich warnen. Aus den Erfahrungen mit den Grippeviren wissen wir: Das Weihnachtsfest ist ein ganz massiver Verbreitungsort, an dem viele Infektionen stattfinden. Auch in den USA, wo das Thanksgivingfest einen ähnlichen Stellenwert genießt wie bei uns das Weihnachtsfest, haben wir gesehen, dass dieses Fest die Zahl der Infektionen massiv nach oben klettern ließ. Das ist ja auch nachvollziehbar, wenn man sich das Fest so vorstellt. Auch wenn die WHO zu Masken an Weihnachten geraten hat, kann ich mir das Bild einfach noch nicht vorstellen, dass Familien mit Maske um den Weihnachtsbaum sitzen und schön Abstand halten zueinander – obwohl es natürlich ratsam wäre. Man darf nie vergessen: Je intensiver Weihnachten gefeiert wird, desto stärker steigt die Zahl der Toten.
Vor allem in den Altenheimen wütet das Virus. Sterben in Bayern mehr Menschen in Altenheimen als in anderen Bundesländern?
Lehr: Die Frage lässt sich nach meinem Kenntnisstand nicht eindeutig beantworten, da solche Zahlen nicht in öffentlichen Datenbanken verfügbar sind und von den einzelnen Landesregierungen oft gehütet werden, wie Gollum im „Herr Der Ringe“ seinen Schatz bewacht. Aufgrund der sehr hohen Inzidenz in der Gesamtbevölkerung ist eine Übertragung in Altersheime aber sehr viel wahrscheinlicher als zu Zeiten niedriger Inzidenz. Generell steigt die Inzidenz in der Altersgruppe der über 80-Jährigen seit September permanent an und ist zurzeit mindestens doppelt so hoch wie der Durchschnitt. Hier muss daher dringend gehandelt werden, um diese Gruppe zu schützen.
Warum sind Altenheime so gefährlich? Lehr: Das Virus wird in der Regel von außen zu den Bewohnern getragen und dort hat man ganz starke Kettenreaktionen, die kaum noch gestoppt werden können. Das liegt zum einen natürlich daran, dass im Altenheim viele Hochbetagte leben, die etliche Vorerkrankungen haben und damit zur Hochrisikogruppe zählen. Aber auch, wenn man die Erkrankungen herausrechnet, birgt allein das Alter bei Covid-19 einen extrem hohen Risikofaktor. Warum das so ist, weiß man noch nicht. Offenbar kommt mit steigendem Alter das Immunsystem gerade mit diesem neuen Virus schlecht zurecht.
Was raten Sie dort?
Lehr: Ich sehe vor allem im Einsatz von Schnelltests einen Effekt. Schnelltests sind nicht immer die beste Lösung, aber gerade in Altenheimen helfen sie doch, Überträger herauszufiltern, und daher gilt es hier, bei den Tests meines Erachtens kräftig aufzurüsten. Dass es Unterschiede bei dem Infektionsgeschehen in Heimen gibt, haben Vergleiche bereits gezeigt: Heime, in denen sehr viel getestet wurde und wird, stehen besser da. Denn das Gefährliche am Coronavirus ist ja, dass Menschen es übertragen, die sich gesund fühlen und keine Symptome zeigen. Problematisch ist in Altenheimen aber sicher auch, dass man in der Pflege und im Umgang mit den alten, oft kranken Menschen einfach nicht immer all die Hygiene- und Abstandsregeln einhalten kann, die eine Infektion verhindern.
Bayern steht bundesweit mit an der Spitze, was die Zahl der Infizierten und die Zahl der Toten angeht. Warum ist der Süden stärker betroffen? Lehr: Hier bleibt leider vieles noch im Spekulativen. Was man aber bei der Analyse der zweiten Welle bereits sieht, ist, dass es jetzt vor allem dicht besiedelte Gegenden besonders hart getroffen hat. Großstädte also zum Beispiel bildeten im September den Beginn und erst danach war auch die Fläche betroffen. Was wir allerdings auch beobachten konnten: Viele Infektionen wanderten aus dem Süden und den Nachbarländern, also beispielsweise aus Frankreich oder Spanien, wieder zu uns. Da spielen die Reiserückkehrer sicher eine Rolle. Aber in der zweiten Welle wurde beispielsweise auch der Grenzverkehr nicht geschlossen.
Ist der Süden vielleicht geselliger? Lehr: Wie gesagt: Vieles ist hier spekulativ. Aber klar, in Bayern gibt es das Oktoberfest, die Menschen gehen vielleicht im Süden wirklich stärker aufeinander zu, haben mehr Sozialkontakte als die im Norden. Da könnte schon etwas dran sein.
Reicht es überhaupt, dass wir einen Inzidenzwert von 50 erreichen, ist das nicht immer noch hoch?
Lehr: Da haben Sie recht. 50 ist jetzt das neue 35 (lacht). Nein, Spaß beiseite. Auch ein Inzidenzwert von 50 ist noch zu hoch. Bis vor kurzem schien schon bei einem Wert von 20 das System außer Kontrolle zu geraten. Wir müssen also diesen Wert ganz massiv drücken, um die Infektionsfälle wieder nachverfolgen zu können, was momentan ja überhaupt nicht mehr möglich ist. Das Infektionsgeschehen ist jetzt völlig außer Kontrolle geraten. Auch Altenheimbewohner kann man am besten schützen, wenn man die Infektionswege wieder nachvollziehen kann. Dahin müssen wir kommen. Was ich und andere Experten schon lange fordern, ist aber vor allem eine langfristige Strategie. Eine, die uns vorgibt, wie es weitergeht, wenn wir einen Inzidenzwert von 50 oder besser einen von 20 erreicht haben. Dann ist ja noch nicht alles gut. Doch von so einem Konzept hört man leider gar nichts.
Die Impfung ist ein Lichtblick, oder? Lehr: Ja, natürlich. Da darf man sich aber auch nichts vormachen, eine Entspannung vor Weihnachten nächsten Jahres werden wir nicht erreichen. Die große Entspannung kommt meiner Meinung nach erst, wenn wir Massenimpfungen durchführen können. Bis das aber möglich ist, wird es, wenn es so weitergeht, noch lange dauern.
OInfo: Die Adresse des CovidSimula tors heißt: www.covidsimulator.de
Thorsten Lehr, 43, Professor für Kli nische Pharmazie an der Universi tät des Saarlandes, betreibt federfüh rend den „Covid19Simulator“.