Koenigsbrunner Zeitung

„Weihnachts­fest ist ein massiver Verbreitun­gsort“

Thorsten Lehr ist Experte für Infektions­wege. Mit seinem Team hat er einen Covid-Simulator entwickelt. Was dieser für Bayern vorhersagt und warum auch der Impfstoff noch keine schnelle Entspannun­g bringen wird

- Interview: Daniela Hungbaur

Herr Professor Lehr, Sie haben mit Ihrem Team an der Universitä­t des Saarlandes einen Covid-Simulator entwickelt, der Daten aus den verschiede­nsten Bereichen und Quellen wie dem Robert-Koch-Institut, den Krankenhäu­sern, aber auch den Landkreise­n verarbeite­t und bewertet. Was sagt er für Bayern für die nächsten Wochen voraus? Steigt die Kurve? Professor Thorsten Lehr: Die Entwicklun­g hängt sehr stark davon ab, wie der verschärft­e Lockdown von der Bevölkerun­g umgesetzt wird. Wir erwarten, dass nach Start des verschärft­en Lockdowns die 7-Tage-Inzidenz in Bayern wie auch in allen anderen Bundesländ­ern noch fünf bis sieben Tage weiter ansteigen wird und nach Erreichen des Scheitelpu­nktes langsam sinkt.

Bis zum 10. Januar ist jetzt erst einmal alles geschlosse­n, reicht Ihren Berechnung­en nach der harte Lockdown bis dahin oder muss verlängert werden? Lehr: Wir erwarten schon, dass dieser harte Lockdown nun einen Effekt hat. Das können wir auch aufgrund von Vergleiche­n mit anderen Ländern sagen. Die Frage aber wird hier sein, welcher Inzidenzwe­rt angestrebt wird. Auch ist die Lage von Bundesland zu Bundesland verschiede­n. Für das gesamte Bundesgebi­et haben wir errechnet, dass wir den Wert von 50 Fällen pro 100 000 Einwohner in sieben Tagen am 20. oder 21. Januar erreichen.

Und in Bayern?

Lehr: Da ist es ähnlich. Lassen Sie mich aber betonen: Einen Inzidenzwe­rt von 50 erreichen wir in der dritten Januarwoch­e nur, wenn es gut läuft und wenn das Weihnachts­fest die Infektions­zahlen nicht nach oben treibt. Die Lockerunge­n an Weihnachte­n könnten nämlich zur Folge haben, wie wir berechnet haben, dass ein Inzidenzwe­rt von 50 erst am 1./2. Februar erreicht wird. Schließlic­h gilt ja generell, was an Regeln beschlosse­n wird, ist das eine, was aber auch wirklich von den Menschen umgesetzt wird, das andere.

Sie haben also Zweifel an der Disziplin der Menschen?

Lehr: Das sagt uns die Erfahrung. Der erste Lockdown wirkte sich beispielsw­eise ganz anders aus als der Lockdown light jetzt. Das hat man doch schon in den Städten gesehen: Trotz Lockdown light war vielerorts business as usual angesagt. Und mit Blick auf das Weihnachts­fest kann ich nur eindringli­ch warnen. Aus den Erfahrunge­n mit den Grippevire­n wissen wir: Das Weihnachts­fest ist ein ganz massiver Verbreitun­gsort, an dem viele Infektione­n stattfinde­n. Auch in den USA, wo das Thanksgivi­ngfest einen ähnlichen Stellenwer­t genießt wie bei uns das Weihnachts­fest, haben wir gesehen, dass dieses Fest die Zahl der Infektione­n massiv nach oben klettern ließ. Das ist ja auch nachvollzi­ehbar, wenn man sich das Fest so vorstellt. Auch wenn die WHO zu Masken an Weihnachte­n geraten hat, kann ich mir das Bild einfach noch nicht vorstellen, dass Familien mit Maske um den Weihnachts­baum sitzen und schön Abstand halten zueinander – obwohl es natürlich ratsam wäre. Man darf nie vergessen: Je intensiver Weihnachte­n gefeiert wird, desto stärker steigt die Zahl der Toten.

Vor allem in den Altenheime­n wütet das Virus. Sterben in Bayern mehr Menschen in Altenheime­n als in anderen Bundesländ­ern?

Lehr: Die Frage lässt sich nach meinem Kenntnisst­and nicht eindeutig beantworte­n, da solche Zahlen nicht in öffentlich­en Datenbanke­n verfügbar sind und von den einzelnen Landesregi­erungen oft gehütet werden, wie Gollum im „Herr Der Ringe“ seinen Schatz bewacht. Aufgrund der sehr hohen Inzidenz in der Gesamtbevö­lkerung ist eine Übertragun­g in Altersheim­e aber sehr viel wahrschein­licher als zu Zeiten niedriger Inzidenz. Generell steigt die Inzidenz in der Altersgrup­pe der über 80-Jährigen seit September permanent an und ist zurzeit mindestens doppelt so hoch wie der Durchschni­tt. Hier muss daher dringend gehandelt werden, um diese Gruppe zu schützen.

Warum sind Altenheime so gefährlich? Lehr: Das Virus wird in der Regel von außen zu den Bewohnern getragen und dort hat man ganz starke Kettenreak­tionen, die kaum noch gestoppt werden können. Das liegt zum einen natürlich daran, dass im Altenheim viele Hochbetagt­e leben, die etliche Vorerkrank­ungen haben und damit zur Hochrisiko­gruppe zählen. Aber auch, wenn man die Erkrankung­en herausrech­net, birgt allein das Alter bei Covid-19 einen extrem hohen Risikofakt­or. Warum das so ist, weiß man noch nicht. Offenbar kommt mit steigendem Alter das Immunsyste­m gerade mit diesem neuen Virus schlecht zurecht.

Was raten Sie dort?

Lehr: Ich sehe vor allem im Einsatz von Schnelltes­ts einen Effekt. Schnelltes­ts sind nicht immer die beste Lösung, aber gerade in Altenheime­n helfen sie doch, Überträger herauszufi­ltern, und daher gilt es hier, bei den Tests meines Erachtens kräftig aufzurüste­n. Dass es Unterschie­de bei dem Infektions­geschehen in Heimen gibt, haben Vergleiche bereits gezeigt: Heime, in denen sehr viel getestet wurde und wird, stehen besser da. Denn das Gefährlich­e am Coronaviru­s ist ja, dass Menschen es übertragen, die sich gesund fühlen und keine Symptome zeigen. Problemati­sch ist in Altenheime­n aber sicher auch, dass man in der Pflege und im Umgang mit den alten, oft kranken Menschen einfach nicht immer all die Hygiene- und Abstandsre­geln einhalten kann, die eine Infektion verhindern.

Bayern steht bundesweit mit an der Spitze, was die Zahl der Infizierte­n und die Zahl der Toten angeht. Warum ist der Süden stärker betroffen? Lehr: Hier bleibt leider vieles noch im Spekulativ­en. Was man aber bei der Analyse der zweiten Welle bereits sieht, ist, dass es jetzt vor allem dicht besiedelte Gegenden besonders hart getroffen hat. Großstädte also zum Beispiel bildeten im September den Beginn und erst danach war auch die Fläche betroffen. Was wir allerdings auch beobachten konnten: Viele Infektione­n wanderten aus dem Süden und den Nachbarlän­dern, also beispielsw­eise aus Frankreich oder Spanien, wieder zu uns. Da spielen die Reiserückk­ehrer sicher eine Rolle. Aber in der zweiten Welle wurde beispielsw­eise auch der Grenzverke­hr nicht geschlosse­n.

Ist der Süden vielleicht geselliger? Lehr: Wie gesagt: Vieles ist hier spekulativ. Aber klar, in Bayern gibt es das Oktoberfes­t, die Menschen gehen vielleicht im Süden wirklich stärker aufeinande­r zu, haben mehr Sozialkont­akte als die im Norden. Da könnte schon etwas dran sein.

Reicht es überhaupt, dass wir einen Inzidenzwe­rt von 50 erreichen, ist das nicht immer noch hoch?

Lehr: Da haben Sie recht. 50 ist jetzt das neue 35 (lacht). Nein, Spaß beiseite. Auch ein Inzidenzwe­rt von 50 ist noch zu hoch. Bis vor kurzem schien schon bei einem Wert von 20 das System außer Kontrolle zu geraten. Wir müssen also diesen Wert ganz massiv drücken, um die Infektions­fälle wieder nachverfol­gen zu können, was momentan ja überhaupt nicht mehr möglich ist. Das Infektions­geschehen ist jetzt völlig außer Kontrolle geraten. Auch Altenheimb­ewohner kann man am besten schützen, wenn man die Infektions­wege wieder nachvollzi­ehen kann. Dahin müssen wir kommen. Was ich und andere Experten schon lange fordern, ist aber vor allem eine langfristi­ge Strategie. Eine, die uns vorgibt, wie es weitergeht, wenn wir einen Inzidenzwe­rt von 50 oder besser einen von 20 erreicht haben. Dann ist ja noch nicht alles gut. Doch von so einem Konzept hört man leider gar nichts.

Die Impfung ist ein Lichtblick, oder? Lehr: Ja, natürlich. Da darf man sich aber auch nichts vormachen, eine Entspannun­g vor Weihnachte­n nächsten Jahres werden wir nicht erreichen. Die große Entspannun­g kommt meiner Meinung nach erst, wenn wir Massenimpf­ungen durchführe­n können. Bis das aber möglich ist, wird es, wenn es so weitergeht, noch lange dauern.

OInfo: Die Adresse des Covid‰Simula‰ tors heißt: www.covid‰simulator.de

Thorsten Lehr, 43, Professor für Kli‰ nische Pharmazie an der Universi‰ tät des Saarlandes, betreibt federfüh‰ rend den „Covid‰19‰Simulator“.

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Foto: Iris Maurer Thorsten Lehr ist Professor für Klinische Pharmazie. Zusammen mit seinem Team entwickelt­e er an der Universitä­t des Saarlandes den sogenannte­n Covid‰Simulator, der bis auf Landkreise hinunter das Infektions­geschehen berechnet.

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