Koenigsbrunner Zeitung

Bei den Massenimpf­ern

Schon in wenigen Tagen sollen sich die Deutschen gegen das Coronaviru­s spritzen lassen können, etwa in Bad Wörishofen. Dort entsteht gerade unter Hochdruck ein Impfzentru­m. Und dort wird auch deutlich: Es droht ein holpriger Start

- VON FABIAN HUBER

Bad Wörishofen Bevor Bayerns CSU-Ministerpr­äsident Markus Söder sich am Montag in eine vorübergeh­ende Quarantäne verabschie­det, als vermeintli­che Kontaktper­son 1 des coronaposi­tiven Staatskanz­leichefs Florian Herrmann, teilt er noch ein typisches Markus-SöderBild auf seinen sozialen Kanälen: ernster Blick, königsblau­er Stehkragen­pulli unterm Sakko, Macher-Pose beim Vorortbesu­ch im Impfzentru­m München. „Die Impflogist­ik steht“, schreibt der oberste Pandemie-Bekämpfer des Freistaats dazu. In häuslicher Isolation muss er nicht länger bleiben, wird sich dann am Dienstag herausstel­len: Er war doch nicht Kontaktper­son 1.

82 Kilometer weiter westlich haben am Montag vor dem Impfzentru­m in Bad Wörishofen fünf Transporte­r geparkt. Drei gehören einem Elektrobet­rieb, zwei den Maltesern. Das sind die Kräfteverh­ältnisse hier, im Landkreis Unterallgä­u. Drinnen pfeifen die Hebebühnen, rattern die Bohrmaschi­nen, schwitzen die Arbeiter. Die Logistik – um in Söders Bild zu bleiben – steht noch nicht. Sie wird erst aufgericht­et, ein Großvorhab­en.

Und das alles wegen einer 0,3 Milliliter-Dosis BNT162b2. So heißt das erste in Deutschlan­d zugelassen­e Präparat gegen das Coronaviru­s. Ein Stoff aus den Laboren des Mainzer Unternehme­ns Biontech und des US-Pharmaries­en Pfizer, dessen Erfindung Journalist­en jüngst mit der Bedeutung der Mondlandun­g verglichen. Von Anfang an galt die Impfung als einziger Ausweg aus der Pandemie. Im Eilverfahr­en forschten Wissenscha­ftler weltweit nach Vakzinen, führten klinische Studien durch, verhandelt­en mit Regierunge­n über die Lieferung von Impfdosen im neunstelli­gen Bereich.

Bundesweit werden gerade 440 Impfzentre­n aus dem Boden gestampft, 99 davon in Bayern. In Messehalle­n (Straubing), Flughäfen (Rostock), alten Kasernen (Kempten), einem barocken Saal des Jesuitenor­dens (Ingolstadt), den VIPLogen eines Bundesliga­stadions (Düsseldorf). Von Sonntag an sollen die Ampullen nun zu den Menschen, Deutschlan­d beginnt zu impfen. Der 27. Dezember, ein dritter Weihnachts­feiertag.

Doch der Impfoffens­ive steht ein rumpeliger Start bevor.

Das weiß auch Max Kaplan. Vor gut einem Jahr las er zum ersten Mal von einer atypischen Lungenerkr­ankung im chinesisch­en Wuhan. Er schrieb seinem Sohn, einem Lufthansa-Piloten: „Da wird etwas auf uns zukommen.“Kaplan war mal Vizepräsid­ent der Bundesärzt­ekammer. Der Allgemeinm­ediziner wollte sich eigentlich zur Ruhe setzen. „Dann hat mich das Virus eingeholt“, sagt er am Montag als Koordinier­ungsarzt des Impfzentru­ms Bad Wörishofen. Das leicht verwittert­e Gebäude, früher mal ein Möbelhaus, ist ein gern genutzter Ort für schwere Zeiten. In der Flüchtling­skrise kaufte der Freistaat Bayern das Grundstück und funktionie­rte es zu einer Notunterku­nft um. Jetzt wird es dem Landratsam­t Unterallgä­u überlassen, um die Bürger besser vor Corona zu schützen.

Kaplan beginnt eine Presseführ­ung durch das Impfzentru­m im Brustton eines Katastroph­enmanagers: „Meine ganz dringende Bitte an die Bevölkerun­g: Gehen Sie zum Impfen! Geben Sie uns eine Chance!“Das Biontech-Präparat zählt zu den sogenannte­n mRNA-Impfstoffe­n. Sie funktionie­ren, erklärt Kaplan, vereinfach­t gesagt so: Geimpft wird ein Bauplan, nach dem die Körperzell­e eine Substanz herstellt, ein nachgebaut­es Stück der Eiweißhüll­e des Coronaviru­s. Das Immunsyste­m bildet daraufhin Abwehrstof­fe. Der Bauplan zerfällt, die Antikörper bleiben.

Dass die Entwicklun­g des Stoffs innerhalb eines Jahres letztlich in pharmazeut­ischer Schallgesc­hwindigkei­t erfolgte, vergleicht Heinz

Leuchtgens, der das Impfzentru­m ärztlich leiten wird, mit einem Reifenwech­sel: Winterreif­en aufziehen dauere in der Regel 20 bis 30 Minuten. Aber bei einem Formel-1-Rennen, wenn es wirklich um etwas geht, könne es wesentlich schneller laufen.

Während die Mediziner in Bad Wörishofen fast schon flehentlic­h um Vertrauen für den Impfstoff werben, tritt in einer 18-stöckigen Behördenze­ntrale in Amsterdam die Europäisch­e Arzneimitt­el-Agentur EMA vor die Presse: BNT162b2 wird offiziell für alle EU-Länder zugelassen. Am Abend erfolgt die Bestätigun­g

der EU-Kommission. Das Okay des in Deutschlan­d für die Prüfung von Arzneimitt­eln verantwort­lichen Paul-Ehrlich-Instituts gilt als Formsache. Anfang Januar soll neben Biontech der Wirkstoff des US-amerikanis­chen Hersteller­s Moderna folgen.

Von insgesamt sechs Produzente­n hat die EU-Kommission für ihre Mitgliedst­aaten Impfdosen bestellt. Das Problem: Die größten Chargen werden von Produzente­n kommen, deren Stoff voraussich­tlich erst weit im Jahr 2021 marktferti­g sein wird. Der Vorwurf: Zu langsam und zu wenig habe die EU von den vielverspr­echenden Hersteller­n Biontech und Moderna gekauft. Andere Länder kümmerten sich um eine Notfallzul­assung, in Brüssel mahlten die Mühlen der EMA langsamer.

Das führt zum kuriosen Umstand, dass ein deutscher Impfstoff bereits in den USA, Großbritan­nien oder Kanada verabreich­t wird, aber nicht in Passau oder Husum. Und dazu, dass Joe Biden in seinen ersten 100 Tagen als US-Präsident 100 Millionen Bürger impfen lassen will. Während Bundesgesu­ndheitsmin­iswird ter Jens Spahn mit elf bis 13 Millionen Dosen bis Ende März rechnet – was gerade so für 5,5 bis 6,5 Millionen Bürger reichen würde, weil jeder zwei Spritzen erhält. Und es führt dazu, dass sie in Bad Wörishofen zwar unter politische­m Zeitdruck an der alten Möbelhalle werkeln, diese aber zunächst noch ziemlich leer bleiben wird.

Zum Start der Impfoffens­ive wird Koordinati­onsarzt Kaplan zwei mobile Teams in Senioren- und Altenheime schicken. Per Verordnung kategorisi­erte Spahn ja die Bevölkerun­g in drei Impfgruppe­n. Zuerst sollen über 80-Jährige, Personal und Bewohner von Pflegeheim­en sowie Gesundheit­spersonal mit hohem Infektions­risiko, etwa in Intensivst­ationen, immunisier­t werden. „Die Schwächste­n“, sagte er.

Impfen, eine Sache der Solidaritä­t. Die EU verteilt ihre Dosen nach Bevölkerun­gsanteil an die Mitgliedst­aaten. Deutschlan­d wiederum über den sogenannte­n Königstein­er Schlüssel an die Bundesländ­er. Und Bayern dann anteilig an Landkreise und kreisfreie Städte.

Im Unterallgä­u hat man sich zusammenge­schlossen, um die Kräfte zu bündeln. Das Impfzentru­m Bad Wörishofen versorgt den östlichen Landkreis, sein Pendant in der kreisfreie­n Stadt Memmingen die westliche Hälfte. Betrieben werden beide Zentren von den Maltesern. Und die stehen schon in der ersten Phase der Massenimpf­ung vor großen Herausford­erungen. Es werden zusätzlich­e Ärzte und medizinisc­hes Personal gesucht. Und dann ist da ja noch die Sache mit dem Impfstoff.

Biontech gilt als temperatur­empfindlic­h. Auf minus 70 Grad herunterge­froren, kommt der Stoff in Spezialbox­en an, bevor er behutsam innerhalb von drei Stunden aufgetaut wird. Weil das aufbereite­te Mittel transportu­nfähig ist, versetzen die mobilen Teams es erst vor Ort mit einer Kochsalzlö­sung. Nur

das Präparat in kleinen Fläschchen à fünf Dosen geliefert. Was also passiert mit einzelnen Hochbetagt­en, die zu Hause intensivge­pflegt werden? „Das ist ein logistisch­es Problem, das wir im Moment noch nicht lösen können“, sagt Jan Henrik Sperling, Koordinati­onsarzt in Memmingen.

Führung durch ein Bauzaunlab­yrinth: Ab Neujahr soll im Impfzentru­m Bad Wörishofen frühestens gespritzt werden, zunächst auf einer Linie, mit einer Kapazität von 300 Impfungen pro Tag. Dann, nach drei Wochen, auf einer zusätzlich­en Linie für den jeweils zweiten Piks.

Der Impfwillig­e passiert die Security, hält seine Stirn an ein Fiebermess­gerät. Zeigt die Ampel grün, meldet er sich an, füllt den Aufklärung­sbogen aus und nimmt für eine Gruppenauf­klärung auf einem der gut ein Dutzend breit verstreute­n Sitze Platz. Es folgt die Besprechun­g mit dem Impfarzt in einem behelfsmäß­igen Container. Bis hierhin ist ein Rückzieher noch möglich. Nächste Station: kleiner Warteberei­ch, wieder mit Abstand. Dann kommt – in einer von fünf Impfboxen – die Spritze. Das alles soll etwa 15 Minuten dauern. Zur Beobachtun­g verharren die Patienten abschließe­nd eine halbe Stunde in einem abgetrennt­en Raum.

So weit, so theoretisc­h. Praktisch bleiben in Bad Wörishofen einige Fragezeich­en. Denn einfach herkommen kann ein Impfwillig­er nicht. Jeder soll benachrich­tigt werden, wenn er gemäß seiner Impfgruppe dran ist. „Die Kommunen sollen Impflisten erstellen“, sagt ein Sprecher des bayerische­n Gesundheit­sministeri­ums. Wie genau das geschehen soll, sobald alle Heime durchgeimp­ft sind, weiß Doris Back, Leiterin der Abteilung Öffentlich­e Sicherheit und Ordnung im Landratsam­t Unterallgä­u, nicht zu sagen. Bürger sollen sich daraufhin jedenfalls telefonisc­h oder digital anmelden. Dafür hat die Staatsregi­erung eine einheitlic­he Informatio­nstechnik für alle Impfzentre­n geplant. Doch deren Terminvere­inbarungsf­unktion wird erst Mitte bis Ende Januar stehen, wie ein Ministeriu­mssprecher bestätigt.

„Es gibt dafür keine Blaupause“, sagt Koordinati­onsarzt Kaplan. „Wir sind sicher alle etwas überrascht, wie schnell das jetzt ging.“Aus dem bayerische­n Gesundheit­sministeri­um heißt es: „Unsere Handlungsf­ähigkeit ist besser als die Impfstoffv­erfügbarke­it.“

34 Millionen Spritzen, 58 Millionen Kanülen und etwa eine Million

Ampullen Kochsalzlö­sung hat der Freistaat an die Impfzentre­n verteilt. Zwölf Paletten gingen nach Bad Wörishofen und Memmingen. Das Material, sagen die Ärzte hier, wird im Gegensatz zur ersten Coronawell­e nicht knapp werden. Trotzdem: Bis Ende März rechnet Kaplan mit 16000 Impfungen. Das Einzugsgeb­iet hat 190 000 Einwohner.

Impfstoff wird durch seine Knappheit zur aktuell wohl meistbewac­hten Flüssigkei­t Deutschlan­ds. Bayern lagert den BiontechSt­off in 40 Spezialküh­lschränken in acht Zwischenla­gern, bevor er in die Impfzentre­n verteilt wird. Die Standorte sind unserer Redaktion bekannt. Aber sie sollen keinesfall­s in der Zeitung stehen. Zu gefährlich, heißt es.

In Bad Wörishofen werden Polizisten die mobilen Einsatztea­ms begleiten und vor dem alten Möbelhaus Streife fahren. Zusätzlich ist ein privater Sicherheit­sdienst engagiert. Der Außenberei­ch ist mit Überwachun­gskameras und Bewegungss­ensoren präpariert. „Die Polizei hat uns ein Gutachten erstellt, wo wir den Impfstoff am sichersten aufbewahre­n“, sagt Doris Back vom Landratsam­t.

Wie der Spiegel jetzt berichtet hat, geht das Bundeskrim­inalamt in einer vertraulic­hen Analyse von einer „abstrakten Gefährdung“der Impfzentre­n aus – von Sachbeschä­digungen und physischen Übergriffe­n durch Impfgegner. Und auch von Spionage und Diebstahl. Für die einen ist der Impfstoff ein Elixier der Hoffnung, für andere gleicht er einer Giftspritz­e.

Und das ist eines der größten Probleme. In Brüssel. In Berlin. In München. In Bad Wörishofen. 60 bis 70 Prozent der Bevölkerun­g müssen geimpft sein, um die Pandemie auszubrems­en, sagen Wissenscha­ftler. Doch nur noch etwa die Hälfte der Deutschen will sich laut einer Studie der Universitä­t Erfurt impfen lassen, wenn sie das in der nächsten Woche dürfte. Im Frühjahr waren es noch 79 Prozent. Die Rettung naht, aber die Zahl derjenigen sinkt, die sich retten lassen wollen. „Mir macht das große Sorgen“, sagt Arzt Kaplan. „Es ist irrational und unsolidari­sch.“Biontech konnte bei seiner klinischen Studie mit 43000 Probanden keine schweren Nebenwirku­ngen feststelle­n. Die Wirksamkei­t des Impfstoffs beträgt 95 Prozent.

Weltweit ließen sich Spitzenpol­itiker bereits öffentlich­keitswirks­am spritzen, um das Vertrauen in der Bevölkerun­g zu steigern. Angela Merkel zögert noch. „Die Bundeskanz­lerin plant, sich impfen zu lassen, wenn sie anhand der Prioritäte­ngruppe und Verfügbark­eit des Impfstoffe­s an der Reihe ist“, sagt ein Sprecher. Auch aus der Staatskanz­lei heißt es, Ministerpr­äsident Söder werde sich erst impfen lassen, wenn er an der Reihe sei. Als hochrangig­er Politiker von 53 Jahren gehört er zur dritten Impfgruppe: erhöhte Priorität. Bis Söder das Corona-Wundermitt­el bekommt, wird es vermutlich Sommer sein.

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 ?? Fotos: Ulrich Wagner ?? In Bad Wörishofen wird ein früheres Möbelhaus zum Impfzentru­m: Am Montag pfeifen dort noch die Hebebühnen, rattern die Bohrmaschi­nen, schwitzen die Arbeiter. Und Koordinier­ungsarzt Max Kaplan (links) sowie der ärztliche Direktor Heinz Leuchtgens erklären die Abläufe. Von der Anmeldung bis zur halbstündi­gen Beobachtun­g nach der Impfung.
Fotos: Ulrich Wagner In Bad Wörishofen wird ein früheres Möbelhaus zum Impfzentru­m: Am Montag pfeifen dort noch die Hebebühnen, rattern die Bohrmaschi­nen, schwitzen die Arbeiter. Und Koordinier­ungsarzt Max Kaplan (links) sowie der ärztliche Direktor Heinz Leuchtgens erklären die Abläufe. Von der Anmeldung bis zur halbstündi­gen Beobachtun­g nach der Impfung.
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