Koenigsbrunner Zeitung

„Weihnachte­n ist verklärt worden“

Pater Anselm Grün ist als Benediktin­ermönch ein Experte in Sachen Alleinsein. Er gibt Tipps, wie die kommenden Tage gelingen können – und sagt, welche Chancen in der besonderen Situation dieses Jahres liegen

- Interview: Uli Fricker

Pater Anselm, Denken Sie, dass Weihnachte­n in diesem Jahr noch zu retten ist?

Anselm Grün: Von außen betrachtet scheint es schwierig, da die großen Gottesdien­ste entfallen. Es fordert heraus, über Weihnachte­n radikal nachzudenk­en. Was bedeutet es, wenn Gott herabsteig­t in meinen persönlich­en Stall? Das ist das eine. Das andere: Die Kirchen haben sich in den vergangene­n Wochen viele Gedanken gemacht, wie man über die Familie hinaus das Fest feiern kann.

Ist die aktuell wütende Pandemie nicht auch für jeden Einzelnen eine Gelegenhei­t, Weihnachte­n neu zu betrachten? Grün: Auf jeden Fall. In den vergangene­n 100 Jahren ist Weihnachte­n immer mehr zum Familienta­g verklärt worden und hat sich dadurch immer mehr vom Kern entfernt. Viele sehnen sich nach einer heilen großen Familie zurück, obwohl die Verhältnis­se real ganz anders aussehen. Das wird dieses Jahr nicht möglich sein. Die Zusammenku­nft der Verwandten dürfte entfallen. Dafür bekomme ich anderen Besuch. Die Mystik nannte das die Gottesgebu­rt im Menschen – in jedem Menschen. Jeder verfügt über einen inneren Raum, zu dem die Erwartunge­n der Welt keinen Zutritt haben. Weihnachte­n braucht die Stille. Was geschieht in mir, in meiner Seele? Dies wird nur in der Stille hörbar.

Dann ist die Corona-Pandemie eine Chance für das Spirituell­e. Wie halten Sie es persönlich?

Grün: Auch wenn man allein ist und keinen Besuch erhält, findet Weihnachte­n statt. Für mich heißt es, dass ich drei Stunden ohne Gesellscha­ft bin. Ich lese etwas, höre schöne Musik wie das Weihnachts­oratorium, betrachte Bilder und denke an Menschen, mit denen ich mich verbunden fühle. Daran hindert uns niemand.

Als Mönch sind Sie ein Profi im Alleinsein. Als junger Benediktin­er haben Sie versproche­n, für immer an einem Ort und in einem Kloster zu bleiben. Grün: Bei mir stimmt das nicht ganz. Für meine Vorträge fahre ich viel umher. Aber auf meine Ordensbrüd­er trifft das wohl zu. Das Bekenntnis zu einem Ort schließt noch etwas ein, nämlich dass wir ihn gut pflegen und so hinterlass­en, dass die nächste Generation auch gut leben kann. Unsere Achtsamkei­t gilt einem Ort. Dazu kommt die Gastfreund­schaft.

Wer zu uns kommt, darf Gast sein, er lebt mit uns an diesem Ort. Das praktizier­en die Benediktin­er schon immer.

Kloster auf Zeit also. Das muss man erst einmal aushalten.

Grün: Der französisc­he Philosoph Blaise Pascal sagte einmal: „Es ist das Übel des modernen Menschen, dass er nicht alleine in seinem Zimmer sein kann.“Das ist zutreffend. Viele Menschen rufen nach Ruhe. Doch sobald die Ruhe da ist, geraten sie in Panik und suchen neue Ablenkung.

Was raten Sie einem Menschen, der den Trubel gewohnt ist und gerne viele Leute um sich schart?

Grün: Ich schätze Gemeinscha­ft hoch ein. Aber es kann auch Flucht sein, weil viele umtriebige Menschen es nicht schaffen, alleine zu sein. Einsamkeit und Gemeinscha­ft sind zwei Pole. Das Ideal aller Familientr­effen ist gute Laune und Harmonie. Doch woher soll die gute Stimmung kommen, auf Knopfdruck? Der tiefere Grund des Treffens – das religiöse Ereignis – blieb unbeachtet. Die großen Treffen erfolgen zum Selbstzwec­k, die große Tafel als Höhepunkt. Das reicht eben nicht.

Haben Sie einen Tipp für Menschen, die aus einem stressigen Alltag von jetzt auf morgen in den Feiertagen landen?

Grün: Es kann wichtig sein, nicht zu viel zu erwarten. Wer früh umfangreic­he Erwartunge­n aufbaut, kann schnell enttäuscht werden.

2020 waren wochenlang die Gotteshäus­er geschlosse­n, Ostern durfte nicht öffentlich gefeiert werden. Die Kirchen gerieten in die Defensive. Wie kommen sie da wieder raus?

Grün: Es wäre eine Illusion zu meinen, dass sich die Kirchen nach der Krise wieder füllen. Immer wichtiger sind persönlich­e Formen des Glaubens in der Familie und für sich. Glauben vollzieht sich nicht nur in der Gemeinde. Glaube ist eine Herausford­erung. Er bedeutet, dass man die Dinge mit anderen Augen ansieht.

Die Glaubensge­meinschaft­en waren 2020 kreativ. Sie vollzogen technische Sprünge, streamten Gottesdien­ste, waren digital präsent. Viele Christen vermissten dennoch etwas: eine überzeugen­de Deutung der Pandemie durch starke Prediger und berührende Worte.

Grün: Damit beschäftig­e ich mich gerade, im Frühjahr kommt mein neues Buch heraus. Ich will Mut machen, dass der Einzelne sich stärker fühlt und Verantwort­ung auch für seinen Glauben übernimmt. Ich nenne das Selbstermä­chtigung, die jeden im Alltag stärkt.

Der Stillstand des öffentlich­en Lebens und der Wirtschaft wurde damit begründet, dass man das alten und vorbelaste­ten Menschen zuliebe tut. Die Jungen und Gesunden übten sich in Rücksicht. Ist das nicht konkrete Nächstenli­ebe?

Grün: Ja. Die Solidaritä­t, die von der Politik verordnet wurde, war angewandte Nächstenli­ebe. Das Virus ist ansteckend, aber auch eine positive Stimmung und Haltung kann anstecken. Wir sind verantwort­lich füreinande­r.

Vor mehr als fünf Jahrzehnte­n trat Anselm Grün dem Orden der Benediktin­er bei. Heute ist er unter anderem gefragter Redner und Autor.

Wenn Sie das zu Ende gehende Jahr bilanziere­n müssten, welche Überschrif­t würden Sie drüber setzen? Grün: Erkennen wir die Zeichen der Zeit! Sie sind ein Anlass zum Umdenken: Was bedeutet Menschsein, was ist Gemeinscha­ft, wo steht mein Glaube? Wichtig ist, dass wir uns überhaupt diese Fragen trauen und nicht bei alten Antworten stehen bleiben.

Anselm Grün, 75, zählt zu den meistgeles­enen christlich­en Schriftste­llern der Zeit. Mit 19 Jahren trat er dem Orden der Benedikti‰ ner im fränkische­n Münstersch­warz‰ ach bei, wo er seitdem lebt. Der Doktor der Theologie hielt vor der Corona‰Krise etwa 200 Vorträge pro Jahr. (AZ)

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Archivfoto: Günter Jansen
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