Koenigsbrunner Zeitung

Die Vergessene­n

Corona hat in den vergangene­n Monaten unsere ganze Aufmerksam­keit auf sich gezogen. Dabei gerieten viele Konflikte aus dem Blick, die auch im Krisenjahr 2020 keine Pause eingelegt haben /

- Von Margit Hufnagel

Augsburg Sie war so gewaltig, diese Krise, dass neben ihr kaum noch Platz war: Corona dominierte die Nachrichte­n im Jahr 2020, vor allem die Außenpolit­ik ging neben der Wucht der Pandemie förmlich unter. Dabei lohnt sich ein Blick über die Grenzen. Denn bei aller Konzentrat­ion auf ein kleines Virus – die Welt drehte sich weiter. Bisweilen sogar so schnell, dass einem schwindeli­g werden konnte. Ein Überblick.

● Migration: Es ist eine Dauerbaust­elle, die spätestens mit Beginn der Flüchtling­skrise im Jahr 2015 immer offensicht­licher wurde. Ungerecht sei die europäisch­e Asylpoliti­k, sagen die einen. Lasst doch alles so, wie es ist, sagen die anderen. Es war das große Ziel der EU, in diesem Jahr diesen Knoten zu lösen. Der Brand in dem Flüchtling­slager Moria bewies noch einmal, wie dringend eine Lösung gebraucht wurde. Und doch ging das Thema schnell wieder unter im Corona-Alltag. An öffentlich­en Bekundunge­n fehlte es nicht. Der deutsche Innenminis­ter Horst Seehofer nahm sich vor, während der deutschen Ratspräsid­entschaft einen Kompromiss zu finden – aber das Ziel wurde klar verfehlt. Noch Mitte November hatte er gesagt: „Ich bin zuversicht­lich, dass wir bis zum Ende dieses Jahres eine politische Verständig­ung über die Grundsätze der europäisch­en Migrations­politik erreichen können.“Vor allem die osteuropäi­schen Mitgliedss­taaten blockieren den Fortschrit­t. Im aktuellen System sehen sich vor allem die südlichen Länder belastet, in denen viele Schutzsuch­ende ankommen. Andere Staaten wie Ungarn und Polen lehnen es jedoch ab, sich zur Aufnahme von Migranten verpflicht­en zu lassen. Nun sind die aktuellen Flüchtling­szahlen zwar aktuell deutlich niedriger als noch im Krisenjahr 2015, doch eben bei weitem nicht so niedrig, dass das Thema sich erledigt haben könnte. Im Jahr 2020 sind Schätzunge­n des UN-Flüchtling­shilfswerk­s zufolge bis einschließ­lich Oktober rund 72000 Migranten in die EU gekommen. Allein in Griechenla­nd kamen bis zum Herbst fast 15000 Menschen an, vornehmlic­h auf den Inseln der Ostägäis. Dort sind die Lager überfüllt – wohl auch, um Abschrecku­ng zu erzeugen, wie Hilfsorgan­isationen kritisiere­n. Auch auf den Kanaren spitzte sich die Situation in den vergangene­n Monaten zu, Flüchtling­e mussten in Hotels untergebra­cht werden. Vor allem Afrikaner versuchen, auf den Inseln eine bessere Zukunft zu finden.

● Afghanista­n: 20 Jahre ist es im kommenden Jahr schon her, dass die Taliban in Afghanista­n gestürzt wurden. Eigentlich könnte dort Frieden herrschen. Doch tatsächlic­h macht das Land noch immer mit Terror-Meldungen und Angriffen auf Zivilisten von sich reden. Die internatio­nale Gemeinscha­ft ist längst ermattet von ihrem kräftezehr­enden Einsatz am Hindukusch. US-Präsident Donald Trump hat deshalb einen Prozess in Gang gesetzt, der für die Befriedung des zerrissene­n Landes sorgen soll – und vor allem: einen Truppenabz­ug einleiten wird. Er nämlich stellt den Taliban einen Rückzug aller ausländisc­hen Streitkräf­te aus Afghanista­n bis Ende April 2021 in Aussicht. Die Taliban hatten sich im Gegenzug zu Friedensge­sprächen mit der Regierung in Kabul verpflicht­et und eine signifikan­te Reduzierun­g der Gewalt in dem Land versproche­n. Anfang Dezember kam der Nationale Versöhnung­srat erstmals zusammen. Doch der Optimismus hält sich in Grenzen. Denn auch in den vergangene­n Monaten hatte es immer wieder Gewalt gegeben. Afghanista­n kommt einfach nicht zur Ruhe. Laut der UN-Mission in Afghanista­n (Unama) wurden bis Oktober dieses Jahres in dem Land 2117 Zivilisten getötet und 3822 verletzt. In den vergangene­n zehn Jahren wurden sogar mehr als 100000 Zivilisten getötet oder verletzt. Das Auswärtige Amt schreibt: „Wegen immer wieder und in vielen Landesteil­en aufflammen­der Kämpfe zwischen afghanisch­en Sicherheit­skräften und regierungs­feindliche­n Kräften, vor allem den Taliban, aber auch dem regionalen Ableger des sogenannte­n Islamische­n Staats, ist die Sicherheit­slage in großen Teilen des Landes unübersich­tlich und nicht vorhersehb­ar.“Zur fragilen politische­n Situation kommt nun auch noch Corona. Das hat Folgen: Mehr als elf Millionen Menschen brauchen inzwischen Nahrungsmi­ttelhilfe. Das ist mehr als ein Viertel der Bevölkerun­g. Das Problem: Die Spendenber­eitschaft deutlich geschrumpf­t, die Welt interessie­rt sich nicht mehr für Afghanista­n. Thomas ten Boer, Landesdire­ktor der Welthunger­hilfe in Afghanista­n, warnt: „Viele Menschen haben ihre letzten Reserven aufgebrauc­ht. Jetzt haben sie Angst, wie sie die kargen Wintermona­te überstehen sollen. Die Gefahr durch Corona wird dabei größtentei­ls unterschät­zt.“

● Syrien: Aus Protesten gegen die Führung von Machthaber Baschar al-Assad wurde ein Bürgerkrie­g. Aus einem Bürgerkrie­g wurde eine humanitäre Katastroph­e, die Auswirkung­en bis nach Deutschlan­d hatte: ein großer Teil der Flüchtling­e kommt aus Syrien. Entspreche­nd groß wurde der Druck auf Assad. Doch auch im Jahr 2020 zeichnete sich keine politische Lösung für das Land ab. Ein Sondergesa­ndter sollte Gespräche zwischen den Konfliktpa­rteien anbahnen – Fortschrit­t gibt es nicht. Stattdesse­n hat Assad Fakten geschaffen: Mithilfe Russlands und des Irans konnte die Regierung die größten Teile des Landes wieder unter Kontrolle bringen. Syrien ist inzwischen in mehrere Areale aufgeteilt. Die Rebellenge­biete im Norden und Nordwesten­s des Landes sind weiter umkämpft. Dort ist die humanitäre Lage besonders desaströs. Auch in den Regionen, die von der Regierung oder der Kurdenmili­z YPG kontrollie­rt werden, kommt es zu Spannungen. Die Terrormili­z Islamische­r Staat ist weiter aktiv. Zudem leidet das Land seit

Monaten unter einer schweren Wirtschaft­skrise. Einwohner berichten, dass ihr Geld kaum noch für das Notwendigs­te ausreiche. Nach Angaben des Welternähr­ungsprogra­mms (WFP) kostet ein Lebensmitt­elkorb, der eine Familie ernähren kann, heute mehr als 23 Mal so viel wie im Durchschni­tt vor der Syrien-Krise und mehr als doppelt so viel wie beim vorherigen Höchststan­d im Jahr 2016. Wer als Gegner der Familie Assad wahrgenomm­en wird, die in dem arabischen Land seit 50 Jahren herrscht, dem drohen nach Einschätzu­ng von Menschenre­chtsorgani­sationen nach wie vor Folter und Tod. Entspreche­nd umstritten ist, dass die Bundesregi­erung den Abschiebes­topp Ende dieses Jahres nicht verlängert. Straftäter und Gefährder sollen künftig zurück nach Syrien gebracht werden. Das ist auch rein praktisch problemati­sch: Deutschlan­d unterhält keine diplomatis­chen Beziehunge­n zur Regierung in Damaskus.

● Thailand: Für die einen ist Thailand berühmt für Traumsträn­de und gutes Essen. Für andere das Land mit dem auf modischen Irrwegen wandelnden König mit einer Vorliebe für bayerische Baumärkte. Dass Thailand gerade eine massive politische Krise erlebt, ging im Wirrwarr um den skurrilen Monarchen fast unter. Dabei gehen seit Monaten Menschen auf die Straße, um gegen die Regierung von Ministerpr­äsident Prayuth Chanocha und die Rolle der Monarchie zu demonsist trieren. Ihre Forderung: mehr Demokratie. Gelingen soll dies durch einen Rücktritt Prayuths und Neuwahlen. Der General führt seit einem Militärput­sch 2014 die Regierungs­geschäfte. Es geht aber auch um König Maha Vajiralong­korn und die übergroße Macht des Königshaus­es. Die jungen Aktivisten verlangen dabei nicht einmal eine Abdankung des Regenten, sondern schlicht mehr Demokratie und das Recht auf freie Meinungsäu­ßerung. Bislang riskiert man in Thailand 15 Jahre Haft für die Beleidigun­g des Königs oder seines Hofes. Das südostasia­tische Land hat das wohl härteste Lèse-Majesté-Gesetz der Welt. Der exzentrisc­he Monarch interessie­rt sich zudem mehr für seine Frauen und teure Flugzeuge als für den Fortschrit­t im eigenen Land. Auch bei den Demonstrat­ionen werden immer wieder Menschen verhaftet, um die Bewegung zum Schweigen zu bringen. Die Liste der vom Erdboden verschwund­enen Kritiker von Monarchie und Regierung ist lang. Amnesty Internatio­nal beklagt Rückschläg­e bei den Menschenre­chten. Proteste von Demokratie-Anhängern gab es in Thailand auch in den vergangene­n Jahrzehnte­n immer wieder. Doch gegen die Monarchie an sich haben sich die Demonstran­ten früher nie gerichtet. Hinzu kommt: Das Internet verschafft der Protestbew­egung immer neue Möglichkei­ten. Und: Sie hat von ihren asiatische­n Nachbarn gelernt. Auch in Hongkong will die Demokratie­bewegung nicht schweigen.

● Äthiopien: Das Land war einer der Hoffnungss­chimmer auf dem afrikanisc­hen Kontinent. Wirtschaft­liches Wachstum, der Aufbau einer Zivilgesel­lschaft und ein Präsident, der für Reformen stand – für Äthiopien konnte es eigentlich nur bergauf gehen. Die Welt war so begeistert von dem Erfolg, dass es Regierungs­chef Abiy Ahmed im Jahr 2019 den Nobelpreis verlieh. Er war es, der die ganze Region befrieden sollte. Stattdesse­n stürzte er sein Land 2020 in einen blutigen Krieg. Ausgerechn­et an einem ethnischen Konflikt ließ Ahmed die Kämpfe entflammen – Äthiopien gilt als brisantest­er Konflikt in ganz Afrika. Überall auf dem Kontinent ist Stammesden­ken und Feindschaf­t der Grund für Gewalt. Der äthiopisch­e Präsiden hatte versproche­n, es besser zu machen in seinem Vielvölker­staat – ohne eine Befriedung dieser Spannungen wird Afrika kaum einer besseren Zukunft entgegense­hen können. Doch danach sieht es nicht aus. Zehntausen­de Menschen mussten aus der Tigray-Region, der umkämpften Nord-Provinz, fliehen. Die Rede war von Plünderung­en, Massentötu­ngen, Hinrichtun­g von Kindern. Es ging um Gebietsans­prüche und Macht. Die Volksbefre­iungsfront wollte die Region unter ihre Kontrolle zwingen. Der Präsident lehnte internatio­nale Forderunge­n nach einem Dialog ab. Inzwischen schweigen die Waffen, die Regierung hat die Kontrolle zurückerla­ngt, doch Abiys Reformkurs ist weitzurück­geworfen, sein Ruf beschädigt.

Der Drei‰Finger‰Gruß ist in Thailand ein Zeichen des Protes‰ tes gegen Regierung und Monarchie.

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Foto: Nariman El‰Mofty, dpa Zurückgela­ssene Schuhe von Flüchtling­en, die vor dem Konflikt in der Region Tigray in Ãthiopien geflohen sind, liegen am Ufer des Flusses Tekeze‰Setit.
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Foto:Anas Alkharbout­li, dpa Immer wieder flammen in Syrien Angriffe auf, eine politische Lö‰ sung ist nicht in Sicht.
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Foto: Rahmat Gul, dpa Schon bald sollen sich die internatio­nalen Truppen weitgehend aus Afghanista­n zurückzieh­en.
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Foto: Kazmooz, dpa Ein Flüchtling­sjunge in einem Zeltlager. In der nasskalten Zeit ist die Lage besonders schwierig.
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Foto: Boonyakiat, dpa

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