Eine Marionette schnitzen war für ihn wie eine Geburt
Für die Augsburger Puppenkiste hat Jürgen Marschall zahlreiche Figuren geschaffen. Jetzt starb er mit 62
Augsburg Aus seiner Hand kamen zahlreiche Figuren für die Augsburger Puppenkiste. 30 Jahre lang gehörte Jürgen Marschall, der ältere Enkel des Gründers der berühmten Marionettenbühne, zur Stammmannschaft. Die Kunst des Puppenschnitzens hatte er bei der besten Lehrmeisterin gelernt, die er finden konnte: seine Mutter Hannelore Marschall-Oehmichen. Am Heiligen Abend ist Jürgen Marschall gestorben. Er wurde 62 Jahre alt.
Es sei jedes Mal wie eine Geburt, erklärte er einmal, wenn sich beim Schnitzen die Konturen einer neuen Marionette immer deutlicher abzeichnen, wenn Mund, Nase und Augen modelliert werden, sobald die Farbe der blank polierten Oberfläche einen blassen Teint verleiht. Noch schlummern die Puppen dann aber wie in einem Kokon. „Sobald die Augen aber drin sind, fangen sie zu leben an“, wusste Jürgen Marschall. Er arbeitete in seiner urigen Werkstatt an der alten Hobelbank seiner Mutter. Ihre alten Schnitzmesser hatte er auch übernommen, inzwischen sind sie kurzgeschliffen vom vielen Schärfen. Wie viele Gesichter haben sie bereits in ein Stück weiches Lindenholz geschnitten?
Jürgen Marschall machte sich gern den Spaß, seinen Puppen die Gesichtszüge bekannter Promis zu verpassen. So gleicht in der MozartAdaption von 2005 der Don Giovanni dem Antonio Banderas als verschlagener Frauenheld, Don Pietro ähnelt Curd Jürgens und die rothaarige Donna Elvira sieht aus wie Sophia Loren. Seine Marionetten für das jährliche Silvesterkabarett sollten sowieso den Promis ähnlich sein.
Der 1958 geborene Jürgen Marschall ist mit der Puppenkiste aufgewachsen. Allerdings ging er seine eigenen Wege, er machte eine Malerlehre, war Disc-Jockey in der Augsburger Nachtszene und hatte mit dem „Katzenstadel“seine eigene Kneipe. Im Nebenjob sprang er seinem drei Jahre jüngeren Bruder Klaus zur Seite, ehe er im Jahr 1991 in die Augsburger Puppenkiste zurückkehrte. Zusammen mit seinem Bruder („Wir haben sehr gut harmoniert“) wurde er in dritter Generation Mitinhaber der Puppenkiste.
1998 gestaltete er die Ausstellung zum 50-jährigen Bestehen der Marionettenbühne, die später die Basis fürs Puppenkiste-Museum werden sollte. Das fand ebenso am Stammsitz seinen Platz wie das Restaurant „Die Kiste“, als 2002 das historische Heilig-Geist-Spital nach der Sanierung wiedereröffnet wurde. Mit viel Herzblut und ambitionierten Ideen zog Jürgen Marschall die Gastronomie auf. Als geselliger Mensch umgab er sich mit einem großen Freundeskreis. Sie trauern um ihn.