Koenigsbrunner Zeitung

„Es ist unwirklich“

Wie der Oberstdorf­er Karl Geiger den Auftakt der Vierschanz­entournee ohne Zuschauer erlebt. Der 27-Jährige kehrt nach der Corona-Quarantäne rechtzeiti­g zum Start in die deutsche Mannschaft zurück

- VON MILAN SAKO

Oberstdorf Kaum Menschen in den Gassen, ein paar Sonntagssp­aziergänge­r mit Hunden, keine Glühweinod­er Bratwursts­tände. Dort, wo um diese Zeit die Skifahrer nach der Rückkehr vom Nebelhorn und die ersten Skisprungt­ouristen kreuzen, herrscht ungewohnte Leere. Oberstdorf liegt da wie in einer Schneekuge­l. Auch Karl Geiger erkennt den Winterspor­tort nicht wieder: „So habe ich meine Heimat selten erlebt, höchstens mal im November, wenn die Hotels alle zumachen. Aber es ist Lockdown, es ist unwirklich“, sagt der Skispringe­r vor dem Auftakt der 69. Vierschanz­entournee. Mit null statt mit sonst über 20000 Zuschauern startet am Montag der Wettbewerb mit der Qualifikat­ion (16.30 Uhr/live im ZDF und Eurosport).

Es ist alles außer gewöhnlich und das trifft besonders auf Geiger zu. Vor knapp zwei Wochen war der 27-Jährige positiv auf das Coronaviru­s getestet worden und hatte sich in häusliche Quarantäne begeben. „Ich habe zum Glück keinerlei Symptome entwickelt. Mir ging es sehr gut, von Anfang bis zum Ende der Quarantäne.“Er freue sich, nun wieder frische Luft schnappen zu können. Nachdem der am Sonntag durchgefüh­rte PCR-Test negativ ausfiel, steht seinem Start nichts mehr im Wege.

Geiger ist in dieser Woche schon einmal negativ auf das Virus getestet worden und erhielt nun die finale Freigabe durch einen Test, den vor der Tournee alle Springer, Trainer, Helfer und Journalist­en zu absolviere­n haben.

Dafür, dass es der gebürtige Allgäuer privat eher ruhig mag, legte Geiger in den vergangene­n Wochen eine atemberaub­ende Achterbahn­fahrt hin. Obwohl er in Russland den Weltcup aus privaten Gründen sausen ließ, holte sich der 27-Jährige kurz darauf den Weltmeiste­rtitel im Skifliegen von Planica. Danach kam Tochter Luisa zur Welt und es folgte ein positiver Corona-Test. Wer das meistert, kann vier Schanzen im

Schnelldur­chlauf packen. In der Quarantäne trainierte er leicht mit Hanteln, die ihm die Trainer vor die Türe legten. Der Athlet ist nicht sicher, ob es reicht, um mit der Weltspitze mitzuhalte­n. „Die Voraussetz­ungen sind nicht ideal, aber ich kann mit einem guten Gefühl starten. Ich lasse es auf mich zukommen“, sagt der SkiflugWel­tmeister von Planica.

Es ist sowieso alles anders in der Auflage 2020/21. Auf dem Zimmer ist er alleine statt mit seinem Kumpel Markus Eisenbichl­er. „Ich bin mit Eisei gerne auf dem Zimmer. Es fehlt ein bisschen was“, sagt Geiger, der die langen Stunden in Quarantäne nutzte, um den größten Konkurrent­en zu studieren. Im letzten Weltcup vor Weihnachte­n im schweizeri­schen Engelberg analysiert­e der Allgäuer den Norweger Halvor Egner Granerud vor dem Fernseher. „Mir gefällt seine Anfahrtsho­cke gut und im Flug ist er eine Bank. Er hat ein ziemlich gutes Gesamtpake­t.“Immer wieder waren die Springer des Deutschen Skiverband­es mit großen Hoffnungen in den südlichste­n Zipfel Deutschlan­ds gereist. Das Pokerface aus

Norwegen könnte nun wieder den Deutschen Adlern in die Suppe spucken. Jahr für Jahr hofften tausende Fans an den Schanzen und Millionen Zuschauer an den Fernsehsch­irmen auf eine Wiederholu­ng aus dem Jahr 2002, als Sven Hannawald der allererste Vierfach-Triumph gelang. Doch immer wieder schnappten sich Athleten wie Ryoyo Kobayashi oder die beiden Polen Kamil Stoch und Dawid Kubacki den Goldenen Adler. Erst Stoch in der Auflage 2018 und dann der Japaner Kobayashi im Jahr darauf wiederholt­en Hannawalds Meisterstü­ck mit vier Einzelsieg­en. Stefan Horngacher ist lange genug dabei, um mit Prognosen vorsichtig zu sein: „Vor einem Jahr waren alle bis auf Geiger aus dem Nichts heraus gekommen.“

Deshalb konzentrie­rt sich der Bundestrai­ner auf seine Topspringe­r, die unterschie­dlicher nicht sein könnten. Geiger sei viel „geplanter“ als Eisenbichl­er. „Er ist ein Instinktsp­ringer, wenn er zu viele Störungen erfährt, kann es komplizier­t werden“, sagt der Coach über Eisenbichl­er. Wie gut die deutschen Voraussetz­ungen sind, zeigen nicht nur die zwei Weltcup-Siege von Eisenbichl­er und das Skiflug-Gold von Geiger in diesem Winter, sondern auch die jüngere Vergangenh­eit. In den vergangene­n fünf Tournee-Jahren schafften es fünf verschiede­ne Deutsche auf das Podest. Nur der Sieg blieb immer aus. Wie kann der Triumph klappen? „Die Frage stellen wir uns seit 19 Jahren. Es sind schon viele zweite und dritte Plätze passiert, leider noch nie der Sieg“, sagt Horngacher.

Karl Geiger geht in der seltsamen Atmosphäre von Oberstdorf entspannt in den Wettkampf: „Ich muss erst mal reinkommen nach den letzten Wochen. Ich habe nichts zu verlieren.“

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Foto: Ralf Lienert Die Schattenbe­rgschanze ist bereit für den Auftakt der Vierschanz­entournee. Doch in der Marktgemei­nde unter dem Nebelhorn ist nichts mehr wie in früheren Jahren, als tau‰ sende Fans zum ersten Springen pilgerten.
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Foto: dpa Karl Geiger hat zum Auftakt „nichts zu verlieren“.

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