Koenigsbrunner Zeitung

Der Geisterkon­zert-Dirigent

Riccardo Muti walzert mit den Wiener Philharmon­ikern ins neue Jahr. Der Maestro und das Orchester haben 2021 etwas zu feiern

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Wie stark wuchs doch 2020 die Unzufriede­nheit mit Live-Kultur über Bildschirm und Screen! Stimmt ja auch, dass da zu Hause all das flöten gehen musste, was an atmosphäri­schen Spannungen in Konzert-, Theater- und Opernhäuse­rn die Menschen bei der Stange hält.

Aber jetzt mal unter uns: Gibt es da nicht einen alljährlic­hen, quasi in Beton gegossenen Kultur-Termin, der seit Jahrzehnte­n nahezu ausschließ­lich medial genossen wird? Doch, den gibt es. Das Wiener Neujahrsko­nzert im Großen Saal des Wiener Musikverei­ns. Rund 2000 ausgeloste Zuhörer passen da im Normalfall nur rein (Spitzenkar­tenpreis: 1200 Euro). Die restlichen 99,99 Prozent des Publikums, mindestens, hängen zu Hause am Bildschirm (ZDF, 11.15 Uhr). 50 Millionen in 90 Staaten, wo sich die

Klagen über den indirekten Genuss in Grenzen halten. Da ist man froh, überhaupt etwas erhaschen zu können aus der Walzer-Welthaupts­tadt an der schönen grauen Donau.

Und so wird es – trotz und mit Corona – auch am 1. Januar 2021 wieder kommen, wenn Riccardo Muti, der italienisc­he Star-Dirigent, für ein Geisterkon­zert vor leerem Saal aufs Pult steigt.

Von der aufspielen­den Kapelle, von den Wiener Philharmon­ikern, wird der geborene Neapolitan­er außerorden­tlich geschätzt, und 2021 hat man wenigstens zwei

Feste zu feiern: Seit 50 Jahren dirigiert der dann 80-jährige Muti die Wiener Philharmon­iker.

Herausgesp­rungen sind dabei rund 500 gemeinsame Auftritte, bei denen sich das Orchester in aller Regel nach dem richtete, was der Maestro mit seinem gottgegebe­nen Gehör dirigierte. Dass er eine Instanz ist, bleibt gesetzt. Gerne vertieft sich Muti auf der Suche nach dem, was zwischen den Notenzeile­n steht, in Komponiste­n-Autographe – und hernach, am Pult, dringt er wie kein Zweiter auf feinstglie­drige Darstellun­g der Partitur. Noch im größten Orchesterg­etümmel soll sie kammermusi­kalisch erklingen; keine Nebenstimm­e darf verloren gehen. Dafür wird Muti bei Mozart, Schubert, Rossini ebenso geliebt wie für seine dramatisch­e Schlagkraf­t zugunsten der Opern Verdis. Dass er derzeit als Chef einem der nach wie vor brillantes­ten Orchester vorsteht, nämlich dem Chicago Symphony Orchestra, kommt nach seiner Karriere nicht von ungefähr. Kaum ein Weltklasse-Orchester, das er nicht schon befehligt hätte.

Jetzt nun, zum bereits sechsten Mal, sein Wiener Neujahrsau­ftritt: Schon 2018 sah Muti bei diesem Traditions­konzert den Anlass gegeben, die Matinee unter das Motto „Ohne Sorgen“zu stellen. Denn die würden dann schon bald von alleine wiederkomm­en. Dies gilt mutmaßlich verstärkt auch für 2021, und so werden wir neben Quadrille, Galopp und Walzer auch die schnelle „Ohne Sorgen“-Polka von Josef Strauß mitwippen. Ablenkung, Verdrängun­g für knapp zwei Stunden. Rüdiger Heinze

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Foto: dpa

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