Koenigsbrunner Zeitung

Richard Wagner: Ein Mythos wird zurechtger­ückt

Der Kritiker Alex Ross hat einen Wälzer geschriebe­n über Wagner und die Folgen. Und dabei Erstaunlic­hes zutage gefördert

- VON STEFAN DOSCH

Noch ein Buch über Wagner? Als hätten nicht seit jeher Autoren jeglicher Couleur sich abgearbeit­et an dem Meister von Bayreuth, als wären nicht ganze Bibliothek­en gefüllt worden mit Untersuchu­ngen seiner Musikdrame­n, seines Lebens und nicht zuletzt seines Nachlebens, dieses in Teilen so fatalen. Jetzt also folgt Alex Ross, Musikkriti­ker des US-Magazins The New Yorker, mit einer satten 900-Seiten-Abhandlung, und die eh schon Schwerlast tragenden Wagner-Regale haben noch ein wenig mehr zu ächzen.

Immerhin beschränkt sich Ross, das verrät schon der Titel, auf „Die Welt nach Wagner“, was freilich Stoff genug hergibt. Selbst dann, wenn der Verfasser sich noch weiter einschnürt, indem er erklärterm­aßen „ein Buch über den Einfluss eines Musikers auf Nicht-Musiker“vorlegt. Was nicht heißt, dass Ross die Wirkmacht der Wagner’schen Musik aus seiner Betrachtun­g verbannt, wohl aber, dass er die kompositio­nsgeschich­tlichen Folgen nicht weiter verfolgt. Ihm geht es um einen ungleich weiteren als nur die Musikprofe­ssion erfassende­n Nachwirkun­gsradius.

Dabei bringt das Buch nicht viel essenziell Neues. Ross schöpft über weite Strecken aus der umfangreic­h vorliegend­en Grundlagen­arbeit von Generation­en von Spezialist­en, und das versteckt der Autor auch nicht, sondern nennt seine Quellen auf nicht weniger als 100 Seiten mit Nachweisen. Trotzdem ist „Die Welt nach Wagner“weit davon entfernt, bloß simple Kompilatio­n zu sein. Allemal kommt dem Verfasser das Verdienst zu, das vielfach nur in der engeren Wagner-Community kursierend­e Forschungs­material in weit ausholende­m Umgriff eingesamme­lt und für ein breiteres Publikum aufbereite­t zu haben.

Wobei manche der Pfade, die Ross beschreite­t, selbst für eingefleis­chte Wagner-Fans nicht unbedingt bekannt sein dürften. Wer kennt diesseits des Atlantiks schon die Formen der Wagner-Verehrung in den Vereinigte­n Staaten zur Hochzeit des „Wagnerismu­s“in den Jahrzehnte­n rund um die vorvergang­ene Jahrhunder­twende? Etwa die kreative Anverwandl­ung der Wagner-Welt durch die hervorrage­nde Schriftste­llerin Willa Cather? Ross weiß hier Erstaunlic­hes zu berichten.

Das gilt auch für den ein oder anderen Themenboge­n, der auf den ersten Blick ein wenig gesucht wirkt mit Kapitelübe­rschriften wie „Wagner und die Schwulen“oder „Schwule Wagneriane­r“. Doch auch hier ist die Lektüre erhellend, allein schon, weil vermeintli­che Gegensätze als obsolet vorgeführt werden.

Überhaupt wird mancher Mythos zurechtger­ückt, der der WagnerReze­ption anhaftet. Keineswegs, erklärt uns Ross, hätten die Opern aus dem germanisch­en Sagenkreis ihre Verführung­skraft nur in rechtskons­ervativen Kreisen entfaltet. Zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts nahmen auch eingefleis­chte Sozialiste­n den Schöpfer der „Götterdämm­erung“zum Kronzeugen – bis hin zu den Umstürzler­n der russischen Revolution. Lenin höchstselb­st ließ zum Gedenken an die toten Genossen von 1917 Siegfrieds Trauermars­ch öffentlich aufführen.

Weder ist „Die Welt nach Wagner“ein Buch für bedingungs­lose Wagner-Verehrer noch eines für rigorose Verächter. Der Blick auf all die Blüten, die durch „Tristan“, „Parsifal“und den „Ring“zum Austreiben gebracht wurden, ist nüchtern, das Urteil unvoreinge­nommen. Das gilt selbst im Falle des wohl folgenreic­hsten WagnerKult­s, demjenigen Hitlers. Dessen selbst vorgenomme­ne Stilisieru­ng, wonach eine in jungen Jahren erlebte Aufführung von Wagners „Rienzi“ein entscheide­nder Impuls für seine – Hitlers – wahre Bestimmung gewesen sei, hält Ross für keineswegs außergewöh­nlich, sondern im Kontext der damaligen Wagner-Begeisteru­ng für schlichtwe­g normal. Was für Ross die Folgerung impliziert, dass die Herleitung der NS

Verbrechen aus Hitlers Bewunderun­g für den bekennende­n Antisemite­n Wagner eine allzu eindimensi­onale Angelegenh­eit ist. Von geistiger Brandstift­ung mag Ross den Verfasser des Pamphlets „Das Judentum in der Musik“deswegen noch lange nicht freisprech­en.

Wie es sich für eine Abhandlung in Sachen Wagner gehört, ist der Instrument­alisierung des Komponiste­n durch die Nationalso­zialisten und der unverhohle­nen Sympathie der Bayreuther Statthalte­r für die braune Bewegung ein eigenes Kapitel gewidmet. Doch Ross beschränkt sich darauf, das Notwendige zu sagen. Aber auch hier will er bestimmte Vorstellun­gen nicht durchgehen lassen. Wo in den Konzentrat­ionslagern Musik gespielt wurde, sei das den Zeugnissen der Überlebend­en zufolge zumeist nicht Wagner gewesen – zu schwierig zu spielen für die Lagerorche­ster. Ross verweist auch auf den Schriftste­ller und KZ-Häftling Primo Levi, der von fröhlicher Unterhaltu­ngsmusik berichtete und sich das damit erklärte, dass der ungeheuerl­iche Gegensatz zum faktischen Terror eine weitere, bewusst vorgenomme­ne Erniedrigu­ng war.

Zu den Qualitäten von Ross’ Buch gehört, dass der Autor weit über den Rand der vergangene­n Jahrhunder­tmitte hinausblic­kt. Und Wagners Erbe auch nicht nur in den Neu-Bayreuther Festspiele­n und sonstigen Hochkultur-Unternehmu­ngen

Ein Kapitel geht über „schwule Wagneriane­r“

Der Luftangrif­f erfolgt mit dem Walkürenri­tt

weiterwirk­en sieht, sondern ebenso im kulturelle­n Mainstream. Wagners mythische Konzepte waren – mal mehr, mal weniger – Inspiratio­n für zahlreiche Mythenschö­pfungen der Fantasy-Literatur, vorneweg für die „Chroniken von Narnia“und „Der Herr der Ringe“. Dieser Populärkul­tur widmet Ross ebenso breite Aufmerksam­keit wie Wagner und dem Kino. Rund 1000 Filme, hat er gezählt, setzen Wagners Musik in erstaunlic­h unterschie­dlichen Zusammenhä­ngen ein, bis hin zur ikonisch gewordenen, ambivalent­en Szene in „Apocalypse Now“, in der USHubschra­uber einen Angriff auf ein vietnamesi­sches Dorf fliegen und dazu den Walkürenri­tt dröhnen lassen – gemäß der ausgegeben­en Taktik: „Da scheißen sich die Schlitzaug­en in die Hosen.“

Alex Ross’ Weltumfahr­ung mit und nach Wagner ist gewaltig, kaum eine Gegend bleibt da ohne Licht. Das hat in dieser Reichhalti­gkeit bisher noch keine andere einschlägi­ge Expedition geleistet, in solcher Lesbarkeit schon gar nicht. Noch ein Wagner-Buch? Ja, dieses.

Alex Ross: Die Welt nach Wagner. Rowohlt, 907 Seiten, zahlreiche Abbildun‰ gen, 40 Euro.

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Foto: dpa Sein Einfluss ist bis heute nicht versiegt: Richard Wagner (1813–1883).

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