Schluss mit der deutschen Amerika-Fixierung
Der Sturm des Kapitols in Washington wühlt Politik und Medien auf. Dabei brauchen wir die US-Demokratie gar nicht mehr als Vorbild
Ein verheißenes Land – so hat Barack Obama seine Autobiografie überschrieben. Nach der Stürmung des Kapitols in Washington, nach vier Jahren unter der Führung von Obamas Nachfolger Donald Trump, nach einer seit zwei Jahrzehnten währenden Krise der politischen Kultur ist von der Verheißung Amerika nicht mehr viel übrig.
Und dennoch kommentieren Journalisten und Politiker aus Deutschland in den sozialen Netzwerken die Trump-Rebellion in Echtzeit und mit ehrlichem Entsetzen, als ginge das Paradies auf Erden unter. Empört wird ein Amtsenthebungsverfahren gegen Trump gefordert, dessen Amtszeit ohnehin in weniger als zwei Wochen endet.
Vergleichbar sind diese Aufrufe des Erschreckens mit dem Anbrüllen des Fernsehers, wenn in einem
Finale der Fußball-Weltmeisterschaft einem Spieler der eigenen Mannschaft ein furchtbarer Fehler unterläuft. Doch der Spieler hört die Schreie nicht, genauso wenig wie es Trump und seine Fußtruppen jetzt tun.
In Deutschland glauben noch immer viele aufgeklärte Menschen mit kindlichem Glanz in den Augen an die Geschichte vom guten Amerika. An die Geschichte vom GI, der Kaugummi an die Kleinen verteilt, und an die Rosinenbomber, die Bonbons abwerfen. An die Geschichte vom Tellerwäscher, der es durch harte Arbeit, Fleiß und Disziplin zum Millionär bringen kann. Und an die Geschichte von der großen Freiheit, in der die Amerikaner angeblich leben.
Wie in allen guten Erzählungen stecken Wahrheitskörnchen darin, der Rest gehört in das Reich der Legende. Amerika ist nicht das neue Jerusalem, das die Pilgerväter als glänzende Stadt auf einem Berg errichten wollten.
Die USA haben nach dem Krieg die Demokratie nach Westdeutschland gebracht und dafür gesorgt, dass die Herrschaft des Volkes fest verankert wird. Dafür gebührt ihnen Dankbarkeit. Ihr eigenes demokratisches System ist allerdings nicht erst seit Donald Trump marode und kein leuchtendes Vorbild mehr. Selbst Obama, in dessen Amtszimmer ein Bild von Arbeitern hing, die die Fackel der Freiheitsstatue polieren, konnte den Verfall nicht stoppen.
Das Zweiparteiensystem aus Republikanern und Demokraten begünstigt die Polarisierung der Gesellschaft. Politik in Washington ist das Geschäft von Millionären und Milliardären, der Einfluss der Konzerne enorm, der Wahlkampf ein Werfen mit Schmutz. All das ist sattsam bekannt.
Für uns in Deutschland gibt es keinen Grund, in Schrecken und Entsetzen zu geraten, weil unser Amerika-Bild nun einen weiteren hässlichen Fleck bekommen hat.
Denn erstens ändert sich durch Aufwallung, Appelle und Ermahnungen aus Germany in den USA rein gar nichts und zweitens brauchen wir Amerika nicht mehr als Vorbild und Rückversicherung für die Demokratie in Deutschland. Ihre Wurzeln – die antike Volksherrschaft, das Christentum mit seinem Gleichheitspostulat, die Reformation mit der Gewissensfreiheit und die Aufklärung, der Sozialstaat – liegen ohnehin hier in der Alten Welt.
Es wird Zeit, sich eine neue Nüchternheit zu verordnen, das kindliche Gebanntsein zu bannen und die Geschichte vom guten Amerika in einer Schublade verstauben zu lassen.
Vielleicht kann man sie in vier Jahren wieder hervorholen. Joe Biden wird die Amtsgeschäfte übernehmen und verfügt über eine Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments. Noch ist aber jeder Präsident gescheitert, der das Land heilen wollte.