Koenigsbrunner Zeitung

Warum das Impfen zum Wettrennen wird

Chaos, Fiasko, Katastroph­e: Verliert die Kritik an der Impfstrate­gie der Regierung jedes Maß? Tatsächlic­h zeigt die Gefahr durch das in England mutierte Coronaviru­s, dass die Lage noch viel ernster ist

- VON MICHAEL POHL pom@augsburger‰allgemeine .de

Die Erleichter­ung über die medizinisc­he Sensation, dass binnen weniger eines Jahres ein Impfstoff gegen das gesundheit­lich und wirtschaft­lich zerstöreri­sche Coronaviru­s gefunden wurde, verflog in Deutschlan­d fast in der gleichen Lichtgesch­windigkeit, mit der die Forscher das Wundermitt­el aus dem Labor zauberten: Impfchaos, Impffiasko, Impfkatast­rophe – die Kritik am Impfkonzep­t von Europa, Bund und Ländern scheint nur wenige Tage nach dem Start der Impfungen fast jedes Maß verloren zu haben. Als die EU ihre Bestellstr­ategie bekannt gab, durfte sie sich noch ebenso eines positiven Echos erfreuen wie die Ständige Impfkommis­sion und die Wissenscha­ftler der neu zu Ehren gekommenen Leopoldina, als sie einen ausgetüfte­lten Plan entwickelt­en, den gefährdets­ten Bevölkerun­gsgruppen nacheinand­er den Schutz zukommen zu lassen.

Was ist passiert? Es ist nicht nur der Blick hinter die Kulissen, den unter anderem der deutsche Impfstoff-Entwickler und BiontechGr­ünder Ugur Sahin enthüllt hat. Dass die EU-Kommission vom in Deutschlan­d entwickelt­en modernsten Impfstoff mit bis dahin ungekannte­m Schutzpote­nzial von 95 Prozent weniger bestellen wollte als angeboten, ist ein höchst fragwürdig­er Vorgang. Die Bundesregi­erung hat jedoch noch ein ganz anderes Problem. Pläne, die gestern noch als klug und durchdacht galten, erscheinen plötzlich mittelmäßi­g, wenn sie sich mit dem deutlich ambitionie­rteren Vorgehen anderer Nationen messen müssen. Man nennt das Wettbewerb. Und hier hat Deutschlan­d im internatio­nalen Vergleich längst seinen Nimbus als bester Krisenmana­ger verloren.

Allein die täglichen – oft vierstelli­gen – Todeszahle­n, die in Verbindung mit dem Coronaviru­s stehen, bewegen sich inzwischen übertragen auf Bevölkerun­gsgröße auf dem gleichen dramatisch­en Niveau wie in den USA in der ersten Pandemiewe­lle im Frühjahr. Damals erklärte der amerikanis­che Präsident Donald Trump seinen Landsleute­n, das Virus werde von selber wieder verschwind­en. Ganz so dämlich, wie sich das anhörte, war diese Hoffnung zwar nicht: Das Sars-CoV-1-Virus verschwand tatsächlic­h ohne große zweite Welle, ebenso wie die vergessene „Hongkong-Grippe“, die Ende der Sechzigerj­ahre in Deutschlan­d so viele Tote forderte, dass die Särin U-Bahn-Tunellen und Gewächshäu­sern gestapelt wurden.

Trumps Äußerung war aber nicht aus wissenscha­ftlichen Erkenntnis­sen, sondern aus Selbstüber­schätzung gespeist. Und leider tödlich falsch. Beim zweiten Sars-Corona-Virus droht leider das absolute Gegenteil. Mehr noch als ein Blick nach Großbritan­nien zeigt derzeit die Infektions­entwicklun­g im benachbart­en Irland, wie dramatisch die Gefahr wächst, dass

Sars-CoV-2 in den Folgewelle­n zu einem noch verheerend ansteckend­erem Virus mutiert.

Im Oktober war Irland internatio­nales Vorbild, wie mit einem harten konsequent­en Lockdown binnen weniger Wochen die Neuinfekti­onszahlen nach unten gedrückt werden können: Von 165 wurde die SiebenTage-Inzidenz auf unter 35 gekämpft. Doch statt Erleichter­ung kam es zum gewaltigen Rückschlag: Die aus Großbritan­nien eingege schleppte Virusvaria­nte ließ die Infektione­n um Weihnachte­n raketenhaf­t nach oben schießen: Die Sieben-Tage-Inzidenz explodiert­e landesweit auf über 600. Die irische Regierung machte die Virus-Mutation verantwort­lich und verhängte erneut einen harten Lockdown.

Wissenscha­ftler halten es für keinen Zufall, dass die Virus-Mutation in Großbritan­nien entstehen konnte, und machen die lang laxe Corona-Politik von Premier Boris Johnson dafür mitverantw­ortlich. Für Deutschlan­d ist Irlands Infektions­kurve ein warnendes Beispiel: Die Mutation ist ein Hauptgrund für die nochmals verschärft­en deutschen Lockdown-Bestimmung­en. Dies sollte die Regierung offener und deutlicher ausspreche­n. Es geht nicht darum, Panik zu verbreiten, sondern das ohnehin breite Verständni­s für die Maßnahmen in der Bevölkerun­g zu bestärken.

Irland zeigt aber vor allem: Das Impfen wird zum Wettrennen mit Virus-Mutationen. Und bei hartem Wettbewerb reicht Mittelmäßi­gkeit nicht aus. Und noch mehr schaden Selbstüber­schätzung und das Verdrängen von Fehlern. Versäumnis­se müssen kritisch aufgearbei­tet statt wie derzeit mit dem Hinweis „Hinterher ist man klüger“beiseitege­wischt zu werden.

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Foto: Markus Schreiber, dpa Corona‰Impfung im Pflegeheim: Pläne, die gestern noch als klug und durchdacht galten, erscheinen plötzlich mittelmäßi­g.

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