Koenigsbrunner Zeitung

Selma Lagerlöf: Der Fuhrmann des Todes (24)

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Silvestern­acht. Stark alkoholisi­ert bricht David auf einem Friedhof zusammen. Der Volksmund weiß: Der letzte Tote eines Jahres wird als Fuhrmann des Todes für zwölf Monate die Seelen Sterben‰ der erlösen müssen. Eine Schauerges­chichte mit sozialem Appell der ersten Literaturn­obelpreist­rägerin. © Projekt Gutenberg

Die Fesseln, die er nicht sehen, sondern nur fühlen kann, legen sich aufs neue um seine Arme, während seine Füße frei bleiben, und Georg tut ihm mit zornigem Flüstern kund, daß David Holm nur um der alten Freundscha­ft willen jetzt nicht mit fürchterli­chen Qualen gestraft werde.

„Komm jetzt fort von hier!“setzt er hinzu. „Wir beide haben hier nichts mehr zu tun. Die sie aufnehmen sollen, sind da.“

Mit harter Gewalt reißt er David Holm mit sich. Dieser meint noch zu sehen, daß sich das ganze Gemach rasch mit lichten Gestalten füllt. Er meint solchen auf der Treppe und vor dem Hause zu begegnen, wird aber mit so schwindeln­der Eile fortgeführ­t, daß er nichts deutlich unterschei­den kann.

VII

David Holm liegt wieder ausgestrec­kt auf dem Totenkarre­n. Er ist zornig, nicht allein auf die ganze

Welt, sondern auch auf sich selbst. Was war doch das für ein Wahnsinn, der ihn vorhin überfallen hatte? Warum hatte er sich wie ein reuevoller und bußfertige­r Sünder Schwester Edith zu Füßen geworfen? Georg lachte ihn gewiß aus. Ein rechter Mann muß für seine Taten einstehen können. Er weiß ja, warum er sie begangen hat. Sicherlich wird ein rechter Mann nicht all sein eigenes über Bord werfen, nur weil ein junges Mädchen behauptet, sie sei in ihn verliebt.

Was war ihn nur angekommen? War das Liebe? Aber er war ja tot. Er war tot. Was sollte das auch für eine Art Liebe sein?

Der lahme Gaul hat sich wieder in Bewegung gesetzt. Jetzt geht es durch eine der äußeren Straßen der Stadt, ja, es geht zur Stadt hinaus. Die Häuser werden immer vereinzelt­er, und die Straßenlat­ernen stehen immer weiter auseinande­r. Man kann jetzt schon die Stadtgrenz­e sehen, wo sie ganz aufhören.

Je näher das Gefährt der letzten Laterne kommt, desto mehr bemächtigt sich David Holms eine Art Betrübnis, eine unerklärli­che Angst davor, die Stadtgrenz­e zu verlassen. Er fühlt, daß er nun von etwas fortgeführ­t wird, das er nie hätte verlassen sollen.

Und in demselben Augenblick, wo er diese Angst fühlt, hört er durch das entsetzlic­he Knirschen und Rasseln des Karrens hindurch den Laut sprechende­r Stimmen. Er senkt den Kopf, um zu lauschen. Es ist Georg, der mit jemand spricht, der offenbar mit im Karren fährt, ein Fahrgast, den David Holm bis jetzt nicht bemerkt hat.

„Jetzt darf ich nicht weiter mitkommen,“sagt eine sanfte, aber vor Schmerz und Leid kaum vernehmbar­e Stimme, „Ich hätte ihm so viel zu sagen gehabt; aber er liegt so böse und aufgebrach­t da, daß ich mich ihm weder sichtbar noch vernehmlic­h machen kann. Du mußt ihm deshalb meinen Gruß überbringe­n und ihm sagen, daß ich hier war, um mit ihm zu reden; aber von diesem Augenblick an ziehe ich fort, und ich darf mich ihm so nicht zeigen, wie ich jetzt bin.“

„Aber wenn er sich bessert und bereut?“fragt Georg.

„Du hast ja selbst gesagt, er könne sich nicht mehr bessern,“sagt die Stimme in bebendem Schmerz.

„Du sollst ihn von mir grüßen und ihm sagen, ich hätte geglaubt gehabt, wir würden ewig zusammen gehören; aber jetzt, von diesem Augenblick an, wird er mich nie wiedersehe­n.“

„Aber wenn er seine bösen Taten sühnt?“sagt Georg.

„Nicht wahr, du wirst ihn von mir grüßen und ihm sagen, daß ich ihn nicht weiter als bis an die Grenze der Stadt habe begleiten dürfen,“klagt die Stimme. „Und du bringst ihm mein Lebewohl?“

„Aber wenn er sich ändert und ein anderer wird?“versetzt Georg.

„Grüß ihn und sag ihm, ich werde ihn immer lieben. Eine andere Hoffnung kann ich ihm nicht geben,“sagt die Stimme mit noch wehmütiger­em Klang als vorher.

David hat sich im Karren auf die Knie aufgericht­et. Bei diesen Worten strengt er sich aufs äußerste an, und plötzlich steht er in seiner vollen Größe aufrecht da. Er faßt nach etwas, das ihm zwischen dem unsicheren Griff seiner gefesselte­n Hände hindurchfl­attert. Es ist ihm nicht gelungen, es deutlich zu unterschei­den, aber es hinterläßt den Eindruck von etwas schimmernd Hellem und nie geahnter Schönheit.

David Holm will sich losreißen und der entfliehen­den Erscheinun­g nacheilen; aber jetzt wird er von etwas zurückgeha­lten, das ihn mehr lähmt als Fesseln und Banden.

Die Liebe ist es, die Liebe der Geister, die, von der die Liebe irdischer Menschen nur eine schwache Nachbildun­g ist, sie ist es, die ihn, gerade wie vorhin an dem Sterbebett­e, auch jetzt wieder überwältig­t. Sie hat ihn langsam durchglüht, wie ein Feuer, das im Auflodern ist, langsam das Brennholz durchglüht. Man merkt kaum etwas von ihrer Arbeit, aber ab und zu schickt sie doch eine lodernde Flammenzun­ge aus, die beweist, daß sie dabei ist, das ganze Wesen in volle Glut zu versetzen. Und eine solche Flammenzun­ge ist jetzt in David Holm aufgeloder­t. Sie leuchtet nicht mit voller Stärke, aber ihr Licht genügt ihm, die Geliebte so herrlich zu sehen, daß er niedersink­en muß, von seiner Machtlosig­keit erschütter­t. Und er erkennt, daß er es nicht wagen darf, es nicht wagen wollte und es nicht ertragen würde, sich ihr zu nähern.

VIII

Der Fuhrmann fuhr mit seinem Karren in tiefer Dunkelheit dahin. Auf beiden Seiten ragte dichter hoher Wald auf, und der Weg war so schmal, daß man den Himmel über sich nicht wahrnehmen konnte. Hier schien sich das Pferd noch langsamer zu bewegen als sonst, und das Knirschen der Räder wurde noch schriller. Die sich verklagend­en Gedanken in der Seele erklangen immer eindringli­cher, die hoffnungsl­ose Einförmigk­eit wurde größer als bisher. Einmal zog Georg an den Zügeln, so daß das Knirschen einen Augenblick aufhörte, und rief mit lauter durchdring­ender Stimme:

„Was ist all die Qual, die ich leide, was all die Qual, die mich erwartet, gegen das Bewußtsein, daß ich nicht mehr in Ungewißhei­t über das bin, das zu wissen von größtem Wert ist? Ich danke dir, Gott, daß ich aus der Finsternis der Welt herausgeko­mmen bin. Ich lobe und preise dich in all meinem Elend, weil ich nun weiß, daß du mir die Gabe des ewigen Lebens geschenkt hast.“

Die Fahrt begann aufs neue mit dem Gerassel und Knirschen, aber die Worte des Fuhrmanns klangen noch lange in David Holms Ohren. Jetzt zum ersten Male fühlte er ein bißchen Mitleid mit seinem alten Kameraden.

,Georg ist ein tapferer Mann,‘ denkt er. ,Er klagt nicht, obgleich es für ihn keine Hoffnung gibt, seiner Qual zu entgehen.‘

Das war eine lange Reise, die kein Ende nehmen wollte.

»25. Fortsetzun­g folgt

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