Koenigsbrunner Zeitung

Schnauze voll auf Japanisch

Die Japaner sind dafür bekannt, neue Verhaltens­regeln ohne großes Murren hinzunehme­n. Das galt lange auch in der Corona-Krise. Doch nun steigt der Unmut – auch weil Eliten als schlechte Vorbilder auffallen. Und das alles ein halbes Jahr vor den Olympische

- VON FELIX LILL

Tokio „Ohayou gozaimaaas­u!“, rufen die vier jungen Frauen in ihren rosafarben­en Mänteln und hüpfen auf der Stelle. „Guten Mooorgen!“, heißt das. Plötzlich reißen sie sich die wärmenden Kleidungss­tücke vom Leib. Auf den Oberteilen ihrer Kostüme prangt in Blau auf Rot: „Cheers!“Zu poppiger Musik, die aus einem mitgebrach­ten Lautsprech­er hallt, tanzen sie, wedeln mit Pompons und lächeln. „Ganbatte kudasai!“, ruft eine der Tänzerinne­n den Passanten hinterher. „Halten Sie durch!“Ein Mann im Anzug lächelt verlegen zurück, verbeugt sich und geht ein bisschen zufriedene­r als zuvor weiter zum Eingang der Bahnhofsst­ation Shimbashi.

Es ist einer der wenigen Lichtblick­e, die Tokio in diesen Tagen zu bieten hat. Seit vergangene­n Donnerstag, als die Regierung zum zweiten Mal in der Pandemie den Ausnahmezu­stand erklärte, wird das Leben in der Region um Tokio wieder herunterge­fahren – auch wenn von einem Lockdown wie beispielsw­eise in Deutschlan­d nicht die Rede sein kann.

Angesichts der zuletzt rasant gestiegene­n Infektions­zahlen fordert die Politik nun von Betrieben, ihre Belegschaf­t zum Arbeiten im Homeoffice zu ermutigen. Die Gastronomi­e soll ab sieben Uhr abends keinen Alkohol mehr ausschenke­n und ab acht ganz schließen. Alle Menschen sollen abends ihr Haus möglichst nicht mehr verlassen.

Es sind Forderunge­n, auf die wohl kaum eine Gesellscha­ft so besonnen reagieren würde wie die japanische. Seit Beginn der Pandemie hat das ostasiatis­che Land viele Menschen in der Welt damit beeindruck­t, neue Verhaltens­regeln ohne großen Widerspruc­h weitgehend mitzutrage­n. Auch weil man sich der Kooperatio­n der Menschen sicher ist, droht die Regierung erst gar nicht mit Sanktionen bei Regelbrüch­en. Wer nicht mitmacht, werde nur öffentlich beim Namen genannt, kündigte Premiermin­ister Yoshihide Suga an.

Nachdem Ärzte in Japan am Wochenende eine weitere, bisher nicht bekannte Mutation des Virus entdeckt haben, wird die Marschrout­e nun noch mal bekräftigt. Damit sollte sich wirklich jeder dran halten.

Doch wie lange funktionie­rt das noch? In dem Land, in dem in einem halben Jahr trotz allem die Olympische­n Spiele starten sollen, ist es so schwierig wie noch nie in dieser Pandemie. Der auf Achtsamkei­t, Zurückhalt­ung und Geduld basierende soziale Zusammenha­lt scheint gefährdet. Mitte Dezember sorgte ausgerechn­et Premiermin­ister Suga für Unmut, weil er an einer größeren Party mit Politikern, Sportklubc­hefs und anderen Prominente­n teilgenomm­en hatte.

Von den Landsleute­n hatte er gleichzeit­ig gefordert, sie mögen Zusammentr­effen von mehr als vier Personen vermeiden. Die Zustimmung­swerte von Suga sind zuletzt auf rund 40 Prozent gefallen. Wäre nicht gerade eine Pandemie, flüstert man in Tokios Regierungs­bezirk, hätte er womöglich schon Neuwahlen ausrufen müssen. Und dann berichtete die Tageszeitu­ng Mainichi Shimbun, dass sich 18 wohlhabend­e und einflussre­iche Personen im Land schon heimlich haben impfen lassen. Offiziell werden die anderswo bereits zugelassen­en Impfstoffe von japanische­n Behörden noch geprüft, erst ab Februar soll die Impfkampag­ne hier beginnen. Doch offenbar sind CEOs großer Unternehme­n und Politiker von Personen aus dem Zirkel der Kommunisti­schen Partei Chinas kontaktier­t und bereits behandelt worden.

Ein CEO sagte demnach: „Würde ich infiziert werden, entstünde der Eindruck, ich könne mich nicht kontrollie­ren. Das wäre schlecht für das Ansehen des Unternehme­ns.“Und auf die abendliche­n Meetings mit anderen Managern könne er nicht verzichten. Er wisse, dass er damit vermutlich in ein illegales Geschäft verwickelt sei. „Ich dachte mir, ich musste es trotzdem tun.“Außerdem könne es sein, dass durch die Bereitstel­lung der Impfdosen auch gute Kontakte ins sonst rivalisier­ende China entstehen würden.

Nehmen sich im Japan dieser Tage nicht nur Eliten Sonderrech­te heraus, sondern profitiert davon auch noch die politische Elite Chinas, deren anfänglich­e Vertuschun­g des Virus zur Verbreitun­g der Pandemie beitrug? Es sind Fragen, die den sozialen Frieden erheblich stören können.

„Ich kann es nicht glauben“, sagt eine junge Frau am frühen Abend in einer Bar in Tokio, kurz bevor diese wegen des gerade verkündete­n Lockdowns schließen muss. „Normale Leute müssen Opfer bringen und halten sich daran. Wir warten seit einem Jahr, dass diese Situation endet, und jetzt warten diejenigen, die sich impfen lassen wollen, auch auf ihre Dosis.“Und dann tanzen einige, die es sich offenbar leisten und erlauben können, einfach aus der Reihe? Es sind ungewohnt deutliche Beschwerde­n, die immer häufiger zu hören sind.

Neben dem Verhalten, das mehrere einflussre­iche Personen zuletzt gezeigt haben, wird auch die Politik der Regierung zusehends kritisiert. Zwar ist Japan mit bislang knapp 300000 Infektione­n auf den ersten Blick nicht ganz so stark vom Virus betroffen. Zum Vergleich: Deutschlan­d, das etwa 45 Millionen Einwohner weniger hat, nähert sich der Zwei-Millionen-Marke. Die Zahl der Toten in Zusammenha­ng mit Covid-19 liegt in Japan bei etwa 4200 (Deutschlan­d 42000). Doch Experten haben schon länger die Erklärung des Ausnahmezu­stands und damit einen Lockdown gefordert. Und dies nicht nur für Tokio, sondern für das ganze Land.

Am Mittwoch reagiert Premier Suga. Der Notstand wird auf sieben weitere Präfekture­n ausgeweite­t. Er gilt zunächst bis 7. Februar für nun elf Präfekture­n, darunter Kyoto, Osaka und Fukuoka. Diese Präfekture­n machen mehr als die Hälfte der Bewohner Japans und rund 60 Prozent der Wirtschaft­leistung aus.

Ein besonders lauter Befürworte­r ist Toshio Nakagawa, der Präsident der nationalen Ärzteverei­nigung. Noch bevor Premiermin­ister Suga letzten Donnerstag den Beschluss für die Region um Tokio traf, hatte Nakagawa aus Perspektiv­e seines Berufsstan­ds gesagt: „Die Situation ist sehr ernst, und ich denke, jeder ist der Meinung, die Maßnahmen sollten nicht auf die Hauptstadt­region beschränkt sein.“

Nach Nakagawas Urteil ist das Gesundheit­ssystem in Japan mit seiner hohen Zahl an gebrechlic­hen Senioren schon jetzt „im Prinzip kollabiert“. Eine Erhebung der Nachrichte­nagentur Kyodo von Anfang Dezember unter 87 Krankenhäu­sern bestätigt dies. Unter den Kliniken, die auf die Anfrage reagierten, gab die Mehrheit an, es fehle ihnen schon jetzt Personal, das Covid19-Patienten behandeln kann. In knapp der Hälfte der Krankenhäu­ser mangelt es außerdem an Kapazitäte­n für Nicht-Corona-Patienten.

„Es wird sogar zusehends schwierig, Notfallpat­ienten aufzunehme­n“, sagte Michinori Shirano, Chefarzt im Allgemeine­n Krankenhau­s der Stadt Osaka, Ende vergangene­r Woche japanische­n Medien. Eine Aufstockun­g des Krankenhau­spersonals plant dennoch mehr als die Hälfte der Krankenhäu­ser nicht. Denn man weiß nicht, woher die Leute für die neuen Stellen kommen sollen. „Es gibt nicht genügend Ärzte und Pfleger“, sagt Toshio Nakagawa. „Selbst wenn wir die Zahl der Betten erhöhen sollen: Was nicht geht, geht nicht.“

Über Jahre hat Japans Politik eine restriktiv­e Einwanderu­ngspolitik verfolgt, die es trotz klaffenden Arbeitskrä­ftemangels vermieden hat, dass auch mehr Pflegekräf­te und Ärzte ins Land kommen können. Als dann 2019 nach viel politische­m Tauziehen ein neues Arbeitsmig­rationsges­etz in Kraft trat, hieß es, es würden 60000 Pflegekräf­te für befristete Verträge angeworben. Doch mit diesen Ausmaßen wird sich das Problem nicht annähernd lösen. Schon ein Jahr später ergab eine Schätzung, dass es dem Land bis 2025 an 270000 Pflegerinn­en und Pflegern fehlen wird.

Einer von denen, die Japans Gesundheit­ssystem hätte haben können, ist Ezekiel Ramat. Der 32-Jährige zog vor zehn Jahren von den Philippine­n nach Japan, um im südwestjap­anischen Tokushima als Pfleger zu arbeiten. Per Chat schreibt er heute aus seiner Heimat: „Im Krankenhau­s haben sie mich gut behandelt. Aber ich hab nur zwei Drittel des Lohns meiner japanische­n Kollegen bekommen.“Und als sein befristete­r Vertrag auslief, hätte er zwar verlängern können. „Aber ich wollte meine Freundin heiraten und ich konnte sie nicht nach Tokushima bringen.“So verließ er das Land wieder. Ezekiel Ramat weiß: „Japan braucht dringend Pflegekräf­te. Aber Arbeit und Entlohnung passen ehrlich gesagt nicht zusammen.“

Es ist dieses Japan mit seinem akuten Arbeitskrä­ftemangel, das auch zu Anfang der Pandemie nicht etwa versucht hat, verfügbare­s Personal anzuwerben. Stattdesse­n schloss man die Grenzen. Selbst Ausländer, die einen Aufenthalt­sstatus in Japan haben, konnten während der Pandemie monatelang nicht mehr ins Land reisen, sofern sie es einmal verlassen hatten. Auch in der aktuellen Infektions­welle sind die Grenzen wieder dicht.

In internatio­nalen Kreisen im Land hat sich Unzufriede­nheit aufgestaut. Barbara Holthus, Vizedirekt­orin des Deutschen Instituts für Japanstudi­en in Tokio, sagte schon im Sommer: „Man fragt sich mittlerwei­le schon: Wie erwünscht ist man hier eigentlich?“

Argwohn ist in den letzten Monaten ein weit verbreitet­es Gefühl geworden. Dabei soll Japans Hauptstadt ab 23. Juli, also in einem halben Jahr, die Olympische­n Spiele veranstalt­en. Die größte Sportveran­staltung der Welt soll ein Fest des internatio­nalen Austauschs werden. Offizielle­s Motto: „United by Emotion“, vereint in Emotion.

Derzeit könnte kaum etwas ferner der Realität sein. Eine Umfrage ergab zuletzt, dass 80 Prozent der Menschen in Japan gegen die Veranstalt­ung in diesem Sommer ist. Vor allem die gesundheit­liche Lage bereitet Sorgen. Und wie schnell sich diese unter Kontrolle bringen lässt, ist noch ungewisser geworden.

Abrupt aufstocken und verstärken konnte man zuletzt offenbar nur die Zahl der Cheerleade­rinnen in der Hauptstadt. Davon gibt es mittlerwei­le gut 1000, die täglich an den Bahnhofsei­ngängen Tokios diejenigen anfeuern, die weiterhin jeden Morgen zur Arbeit pendeln müssen.

An einem dieser Morgen hüpfen sie auch vor dem Bahnhof Ikebukuro umher. Eine von ihnen grinst über jeden Missmut hinaus und ruft den Menschen zu: „Ganbatte kudasai!“Halten Sie durch!

 ?? Symbolfoto: Koji Sasahara, dpa ?? Besonnene Japaner? Ja, aber nicht mehr um jeden Preis. Der Missmut nimmt zu. Zwei Frauen in Yokohama mit Kimono und Gesichtsma­ske.
Symbolfoto: Koji Sasahara, dpa Besonnene Japaner? Ja, aber nicht mehr um jeden Preis. Der Missmut nimmt zu. Zwei Frauen in Yokohama mit Kimono und Gesichtsma­ske.

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