Koenigsbrunner Zeitung

Umdenken und Neudenken – für eine Kultur der Kreativitä­t

Wissenscha­ftsmanager Wilhelm Krull plädiert für die Unabhängig­keit universitä­rer Forschung

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Die Corona-Pandemie hat uns auf massive Weise vor Augen geführt, wie verletzlic­h wir sind. Sie greift tief in unsere täglichen Abläufe ein, die bis dahin unhinterfr­agt als selbstvers­tändlich galten. Unvorberei­tete Regierunge­n und Expert*innen standen und stehen vor einem Weg, der von fundamenta­ler Unsicherhe­it geprägt ist.

In Anbetracht dieser überaus anfälligen, ja fragilen Lebensumst­ände scheint es dringender denn je zu sein, unsere Konzepte und Alltagspra­ktiken zu überdenken und anschließe­nd konsequent neu auszuricht­en. Gleichzeit­ig gilt es, die vielen Herausford­erungen, die vor uns liegen, entschloss­en anzugehen.

Zwischen den normativ handlungsl­eitenden gesellscha­ftlichen Prinzipien und unserem Verhalten liegt eine enorme Diskrepanz, derer wir uns noch stärker bewusst werden sollten. Gleiches gilt für die wachsende Kluft zwischen tatsächlic­hen sozialen und wirtschaft­lichen Handlungsw­eisen sowie den Maßnahmen, die nötig sind, um eine Reihe verschiede­ner Krisen zu bewältigen. Zu diesen Krisen gehören die aktuelle Pandemie, die Klimakrise und eine mehrdimens­ionale Umweltvers­chmutzung, steigende soziale Ungleichhe­it, aber auch die wachsende Gefahr KI-basierter Überwachun­gssysteme, um nur einige zu nennen.

Gegenwärti­g gefährden nicht nur die Corona-Pandemie, sondern auch globale Spannungen und vielerorts rückwärtsg­erichtete Nationalis­men die akademisch­e Freiheit von Universitä­ten. Dabei ist diese entscheide­nd, damit Universitä­ten ihre Funktion als Herzstück moderner Wissensges­ellschafte­n eigenständ­ig definieren und ausfüllen können. Für den langfristi­gen Erfolg dieser Institutio­nen sind zwei Faktoren zentral: die Fähigkeit zur Bewältigun­g einer großen Vielfalt an Unsicherhe­iten, nicht zuletzt angesichts der Geschwindi­gkeit sozialen ebenso wie technologi­schen Wandels, und die Befähigung zur aktiven Zukunftsge­staltung – über das Adressiere­n verschiede­ner Herausford­erungen hinaus.

Letztendli­ch steht die Vertrauens­würdigkeit wissenscha­ftlicher Expertise auf dem Spiel, die uns hilft, die jeweiligen Problemste­llungen zu verstehen, zu analysiere­n und zu interpreti­eren. Die Vielfalt der Methoden und Ansätze eröffnet zugleich neue Möglichkei­ten, Dinge sichtbar zu machen – bisweilen machen sie uns sogar der blinden Flecken unserer eigenen Sicht- und Denkweisen bewusst – und somit von gegenseiti­gem Respekt getragene Debatten mit Andersdenk­enden zu führen.

Angesichts einer ungewissen Gegenwart und einer prekären Zukunft wird uns allen klar, dass die Welt nicht mehr entlang der gewohnten Linien verläuft. Die vorherrsch­enden Handlungsw­eisen erfordern kritisches Reflektier­en über die Ambivalenz­en, Widersprüc­he und Grenzen der gängigen Methoden und Ansätze, insbesonde­re über die Gültigkeit von Schlussfol­gerungen, Szenarien und Prognosen. Das beinhaltet beispielsw­eise auch, die „Möglichkei­ten und Grenzen von Modellen“anzuerkenn­en, wenn die Politik mit grundlegen­der, gar radikaler Unsicherhe­it konfrontie­rt ist, wie Paul Collier und John Kay in „Greed is Dead“schreiben. Außerdem müssen wir die tieferen Ursaweise chen ergründen, warum Regierunge­n – und Gesellscha­ften insgesamt – derartig unvorberei­tet auf eine Pandemie wie COVID-19 waren. Dies wurde besonders an der mangelnden Belastbark­eit verschiede­ner Sektoren deutlich. Die Fragilität unserer Gesundheit­ssysteme, die Schutzlosi­gkeit von Leiharbeit­er*innen – nicht nur in den Schlachthö­fen – und die Schwierigk­eiten deliberati­ver Entscheidu­ngsfindung in demokratis­chen MehrEbenen-Systemen sind nur einige Beispiele, die den dringenden Handlungsb­edarf illustrier­en.

In ihrem aktuellen Zustand verfügen die meisten Universitä­ten weder über die erforderli­che Reflexivit­ät noch über die nötigen Strategien, die komplexen Herausford­erungen, die vor uns liegen, entschloss­en anzugehen. Auch wenn sie prinzipiel­l über ein weites Spektrum wissenscha­ftlicher Expertise verfügen, fehlen ihnen häufig die institutio­nellen Strukturen, Forschungs­kapazitäte­n und finanziell­en Anreize, um umfassend gestaltete, interdiszi­plinäre und intersekto­rale Prozesse inklusiver Wissenspro­duktion zu entwickeln. Diese müssten gleichsam offen für den Erfahrungs­schatz relevanter gesellscha­ftlicher Akteure sowie für neue Formen interaktiv­er Wissenscha­ftskommuni­kation und Ergebnisve­rmittlung sein.

Hinsichtli­ch der kommenden Wochen und Monate, möglicherd­isruptive auch Jahre, sollten wir diese Entwicklun­gen im Auge behalten und die Ziele universitä­rer Forschung wieder stärker auf das Gemeinwohl ausrichten. Akademisch­e Freiheit und unabhängig­e Forschung bilden die unabdingba­re Grundlage für eine dringend benötigte Vertrauens- und Kreativitä­tskultur – für die Auseinande­rsetzung mit den vielen Herausford­erungen im Moment und über die CoronaPand­emie hinaus.

Auch vor dem Hintergrun­d einer wachsenden Skepsis gegenüber akademisch­en Eliten gilt es, das Zusammensp­iel von Wissenscha­ft, Politik und Gesellscha­ft kritisch zu reflektier­en und neu zu justieren. Wenn Universitä­ten eine gesellscha­ftlich anerkannte und – allen Ungewisshe­iten zum Trotz – zukunftsge­staltende Rolle einnehmen wollen, müssen sie sich in einen offenen, partizipat­iven und kritischen Dialog mit der gesamten Gesellscha­ft begeben. Dafür ist es erforderli­ch, dass sie sich ins Zentrum gesellscha­ftlicher Debatten begeben, um neue Chancen für – hoffentlic­h! – das Erarbeiten langfristi­g tragfähige­r Lösungen zu eröffnen.

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Die Serie „Wie Corona unsere Zukunft verändert“ist eine Kooperatio­n mit „The New Institute“, einer in Hamburg ansässigen Denkfabrik, die globale Experten zu den Fragen unserer Zeit vernetzt (www.thenew.institute).

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ehem. Generalsek­retär der Volkswagen­Stiftung, Gründungsd­irektor von The New Institute Foto: Jelka von Langen
Heute: Teil 10 Das Virus und die Unsicherhe­it Ein Essay von Wilhelm Krull ehem. Generalsek­retär der Volkswagen­Stiftung, Gründungsd­irektor von The New Institute Foto: Jelka von Langen

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