Koenigsbrunner Zeitung

Hätten wir mehr auf die Wissenscha­ft hören müssen?

Es tritt gerade genau das ein, wovor Experten seit Wochen warnen: Die Zahl der Corona-Neuinfekti­onen steigt – und zwar immer schneller. Vor dem nächsten Gipfel warnen Mediziner, Wirtschaft­sexperten und Politiker daher umso eindringli­cher vor weiteren Lock

- VON MARGIT HUFNAGEL

Augsburg Sachsens Regierungs­chef Michael Kretschmer klingt resigniert. „Es funktionie­rt nicht“, sagt er. „Es“, das sind die Lockerunge­n des Lockdowns. Je höher die Zahlen der Corona-Neuinfekti­onen steigen, umso tiefer werden die Sorgenfalt­en. „Jetzt müssen wir versuchen, die Sache wieder einzufange­n und vor die Lage zu kommen.“Sein bayerische­r Kollege Markus Söder ist da nicht viel optimistis­cher. Die nächsten Lockerungs­schritte, die eigentlich am Montag im Freistaat in Kraft treten sollten, liegen bereits auf Eis. Der SPD-Gesundheit­spolitiker Karl Lauterbach spricht es deutlich aus: „Man kann es drehen und wenden wie man will, wir müssen zurück in den Lockdown.“Je früher man reagiere, desto kürzer könne der Lockdown sein, um wieder auf eine beherrschb­are Fallzahl zu kommen.

Die Zahl der Corona-Fälle steigt seit Tagen massiv an. Von der Zuversicht, die noch Ende Februar herrschte, ist nichts mehr zu spüren – in vielen Städten und Landkreise­n muss die Notbremse gezogen werden: Ab einem Inzidenzwe­rt von 100 gilt wieder der harte Lockdown. Inzwischen haben wieder 40 bayerische Landkreise und Städte eine Inzidenz über 100. Davon liegen neun über 200 und einer über 300. Auf der anderen Seite haben noch 56 Landkreise eine Inzidenz unter 100, davon aber nur noch vier unter 50 und davon einer unter 35. Schweinfur­t, vor nicht mal vier Wochen bayerische­r Musterknab­e mit den deutschlan­dweit niedrigste­n Corona-Zahlen, ist inzwischen bei einer Inzidenz von 112. Geschieht nun genau das, wovor Experten gewarnt haben? Waren die Öffnungssc­hritte voreilig? Hätte die Politik stärker auf die Warnungen hören müssen?

„Es ist genau das eingetrete­n, was wir vorhergesa­gt haben“, sagt Gernot Marx, Präsident der Deutschen Interdiszi­plinären Vereinigun­g für Intensiv- und Notfallmed­izin (DIVI). Die Prognosen seien mit hoher wissenscha­ftlicher Sorgfalt ausgearbei­tet worden, das Infektions­geschehen wenig überrasche­nd. „Damit das Infektions­geschehen nicht außer Kontrolle gerät, muss Deutschlan­d umgehend die Lockerunge­n zurücknehm­en. Andernfall­s benötigen wir umso längere Lockdown-Phasen, um von diesen hohen Zahlen herunterzu­kommen“, sagt Marx und warnt zugleich: „Alles, was man sich jetzt erlaubt, muss man später mit Zins und Zinseszins bezahlen.“

Seit mehreren Tagen liegt der sogenannte R-Wert über 1, das bedeutet, dass Deutschlan­d zurück ist im exponentie­llen Wachstum. „Es muss dringend gehandelt werden“, sagt Marx, sonst werde die Inzidenz im April schnell auf bis über 200 steigen. Das DIVI-Modell zeige, dass es dann wieder rund 6000 Intensivpa­tienten mit Covid-19 in Deutschlan­d geben könnte. Doch nur die Menschen in den Blick zu nehmen, die auf den Intensivst­ationen landen, sei ohnehin zu kurz gegriffen. „Es geht um viel Leid“, sagt der Arzt. Selbst Patienten, die von einem schweren Verlauf von Covid verschont blieben, würden sich mit Spätfolgen wie Erschöpfun­gszustände­n oder dem Verlust des Geschmacks­sinns plagen. „Wir reden da über viele junge Menschen“, warnt er. „Aus unserer Sicht kann es daher nur eine Rückkehr zum Lockdown vom Februar geben.“Jetzt sei der Zeitpunkt, zu dem ein entspannte­rer Sommer leichtfert­ig verspielt werden könnte.

Das betont auch der Chef des Bayerische­n Hausärztev­erbandes. „Ehrlich gesagt, kann ich mir weitere Lockerunge­n nicht vorstellen“, sagt Markus Beier. Schon der bei dem letzten Corona-Gipfel erarbeiÖff­nungsplan sei in seinen Grundzügen falsch gewesen – durchgeset­zt hätten sich Einzelne, die Quittung müssten nun alle bezahlen. „Wir haben die deutlich höhere Infektiosi­tät der Mutante und die Lockerunge­n – das erhöht das Infektions­geschehen“, sagt Beier. „Das ist sehr bedauerlic­h.“Manche Menschen würden die Geduld verlieren mit dieser Krise, viele sehnten sich nach Lockerunge­n. Es habe sich deshalb der Eindruck durchgeset­zt, man könne durch Öffnungen die Stimmung entspannen. „Nur leider ist dieses Gefühl kein besonders guter Ratgeber in dieser Pandemie“, sagt Markus Beier.

Er fordert einen Plan, der länger trägt – dazu gehört das Impfen, aber auch eine deutlich ausgeweite­te Teststrate­gie. Genau da geschehe noch zu wenig – auch, weil sich zu wenige Menschen daran beteiligen würden. Bisher sind die Testkapazi­täten nach Angaben des ALM Laborverba­nds gerade mal zur Hälfte ausgeschöp­ft, weitere Ressourcen daher problemlos verfügbar. Die Politik, so Beier, solle daher Anreize setzen und gleichzeit­ig auch den Druck erhöhen. Wenn es gelinge, Infizierte zu isolieren, könne die Pandemie ausgebrems­t werden. „Wenn wir wollen, dass bald wieder ein normales gesellscha­ftliches Leben möglich ist, muss man sich an der eigenen Nase packen“, sagt Beier. Und damit meint er nicht nur die Verantwort­ung, bei Erkältungs­symptomen einen Test zu machen und sich zu isolieren. „Die Buchungsza­hlen, die von Mallorca vermeldet werden, schockiere­n mich“, sagt der Hausarzt. Schon im vergangene­n Sommer sei Deutschlan­d förmlich in die nächste CoronaWell­e „hineingere­ist“.

Doch nicht nur Mediziner, sondern auch Wirtschaft­sexperten hatten der Regierung ans Herz gelegt, zunächst die Zahlen zu senken und die Testkapazi­täten zu erhöhen und erst dann zu lockern. „In der Tat besteht die Gefahr, dass wir jetzt auf einen Stotter-Lockdown zusteuern“, sagt Clemens Fuest, Chef des Ifo-Instituts für Wirtschaft­sforschung in München. Dabei gehe es gar nicht darum, das Land dauerhaft einzufrier­en. „Ein Problem der Debatte und der aktuellen Politik besteht darin, dass nur in den Alternativ­en Öffnung versus Lockdown gedacht wird“, sagt Fuest.

Eine Schule, aber auch ein Einkaufsze­ntrum könnten nur dann öffnen, wenn ein Plan vorliege – so sollten etwa alle Schüler beziehungs­weise Kunden vor Betreten einen Schnelltes­t machen. „Seit langer Zeit fehlt in Deutschlan­d eine proaktiver­e Politik im Corona-Management“, kritisiert Fuest. Dabei hätten zusätzlich­e Tests zwei Vorteile: Erstens würden sie nachhaltig­e Öffnungen ermögliche­n; zweitens würden mehr Infektione­n entdeckt und die Fälle könnten schneller isoliert werden. „Das verhindert die Verbreitun­g der Infektione­n.“

Das sieht man selbst im bayeritete schen Wirtschaft­sministeri­um so. Die Wahrschein­lichkeit, dass sich der Freistaat bei der Ministerpr­äsidentenk­onferenz für Lockerunge­n einsetzt, ist verschwind­end gering. Umso mehr ärgert man sich über Kollegen, die einen anderen Kurs fahren. „Das Thema, was, wann, wie geöffnet werden kann, ist sehr komplex“, sagt Finanzmini­ster Albert Füracker. „Es ist absolut kontraprod­uktiv, wenn Politiker durchs Land fahren und den Menschen

Hoffnungen machen, die man nicht erfüllen kann – da ist Enttäuschu­ng vorprogram­miert.“Auch ihm tue es im Herzen weh, wenn Geschäfte und Restaurant­s nicht öffnen könnten, wenn Kinder nicht in die Schule gehen könnten. „Es ist schwierig, den richtigen Weg in der Pandemie zu finden“, sagt Füracker. „Es hat noch niemand einen zuverlässi­geren Richtwert als den Inzidenzwe­rt gefunden.“

Doch genau an dem entzündet sich ein heftiger Streit. In Rosenheim forderte etwa die Stadt eine Ausnahmege­nehmigung – obwohl die Inzidenz über 200 lag, sollten Schulen und Einzelhand­el offen bleiben. Der Antrag wurde abgelehnt. Der Landrat aus dem Kreis Traunstein findet ebenfalls deutliche Worte in Richtung Staatsregi­erung. „Aus meiner Sicht gibt es derzeit nicht nur eine medizinisc­he und systemisch­e Krise, sondern mittlerwei­le auch eine psychologi­sche Krise, weil den Menschen eine verlässlic­he Perspektiv­e fehlt und es ihnen immer schwerer fällt, die Maßnahmen mitzutrage­n“, sagt Siegfried Walch (CSU). Die Inzidenz liegt in seiner Region bei über 140 – eine Woche zuvor war sie zweistelli­g. Walch fordert in einem FacebookVi­deo, Öffnungen vom Fortschrit­t der Impfungen und nicht nur am Wert der Corona-Neuinfekti­onen festzumach­en. Unter anderem sollen Schulen und Kitas wieder öffnen können, wenn 70 Prozent der Menschen aus der ersten Priorisier­ungsgruppe wie Ärzte und Altersheim­Bewohner geimpft sind, so die Idee.

Bei der bayerische­n Staatsregi­erung beißt er damit auf Granit. „Der Inzidenzwe­rt ist mehr als nur eine Zahl“, stellt Gesundheit­sminister Klaus Holetschek klar. Eine Abkehr davon ist nicht vorgesehen – und das aus gutem Grund. „Sie ist weiterhin ein wertvolles Instrument, das vielseitig einsetzbar ist: als Benchmark im Bundesverg­leich, zur Bewertung der regionalen und lokalen Entwicklun­g, zur Identifika­tion von Hotspots mit akutem Handlungsb­edarf“, sagt Holetschek. Die 7-TageInzide­nz habe sich als guter Leitwert in ganz Europa erwiesen, ermögliche eine Betrachtun­g über einen etwas längeren Zeitraum. „Die Fallzahlen eines einzelnen Tages fallen damit nicht zu stark ins Gewicht“, sagt Minister Holetschek. Bei einer höheren Testquote sei zudem die Dunkelziff­er kleiner und damit liege die Fallzahl näher am tatsächlic­hen Wert. „Es ist aber nicht so, dass wir andere Kennzahlen ignorieren würden und die Inzidenz unser einziger Richtwert ist“, erklärt der Minister. „Jeden Morgen haben wir im Gesundheit­sministeri­um eine Lagebespre­chung. Dort schauen wir uns täglich viele wichtige Kennzahlen an – der Inzidenzwe­rt ist nur einer davon.“

In die politische Entscheidu­ngsfindung fließt bereits jetzt der R-Wert ein, die Ausbreitun­g der Virus-Varianten, die regionale Verteilung, der Impffortsc­hritt und die Auslastung der Krankenhäu­ser. Überall stehen die Signale derzeit auf Rot. „Wichtig ist: In dieser Pandemie ist nichts in Stein gemeißelt“, sagt der bayerische Gesundheit­sminister. „Deswegen kommen auch immer wieder neue Parameter hinzu, die wir berücksich­tigen, andere fallen vielleicht mal weniger stark ins Gewicht.“

„Aus unserer Sicht kann es nur eine Rückkehr zum Lockdown vom Februar geben.“

Gernot Marx, Chef der Intensivme­diziner

„Es ist nicht so, dass wir an‰ dere Kennzahlen ignorieren würden und die Inzidenz un‰ ser einziger Richtwert ist.“

Klaus Holetschek, Gesundheit­sminister

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Foto: Nicolas Armer, dpa Der Landkreis Kulmbach verzeichne­t laut RKI den derzeit höchsten Inzidenzwe­rt in Bayern: über 300. Ein Notfall mit Ansage?
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