Der Lockdown als Glücksfall für Neuschwanstein
Weil keine Besucher die Handwerker behindern, geht die Sanierung der Prunkräume deutlich zügiger voran als geplant. Manche Arbeiten werden sogar vorgezogen. Ein Blick auf eine ganz besondere Baustelle
Hohenschwangau Eisenstangen und dicke Eichenbohlen versperren den Blick. Und auch die mächtigen Holztore sind verrammelt. „Schade“, entfährt es einem jungen Pärchen, das sich bei seinem Spaziergang zumindest einen Blick ins Innere von Schloss Neuschwanstein erhofft hatte: einmal das Märchenschloss so ganz ohne Touristen erleben. Doch das massive Portal bleibt an diesem Vormittag verschlossen.
Auf einem roten Schild prangt in schwarzen Lettern „Seit 1. November vorübergehend geschlossen.“Dieses vorübergehend dauert nun schon über ein Vierteljahr. Wo sich sonst Neugierige aus aller Welt drängen, herrscht nun bedächtige Ruhe. Zumindest wirkt das so, wenn man wie das einheimische Pärchen vor dem hölzernen Portal des Torbaus steht, der sonst Besuchern den Zutritt zum Schloss weist.
Doch dieser Eindruck trügt. Denn hinter den dicken Mauern aus Sandstein herrscht trotz Lockdown vieles, nur kein Stillstand. Im Gegenteil.
„Der Lockdown ermöglicht es uns, mit unseren Sanierungsmaßnahmen rascher voranzukommen als geplant“, sagt Christoph Weber vom Staatlichen Bauamt in Kempten. Der Mann aus der Behörde begleitet die bislang umfangreichste Renovierung der Schlossgeschichte. Bis 2023 sollen die Arbeiten beendet sein. Kostenpunkt: weit über 20 Millionen Euro. Stillstand? Undenkbar bei der Fülle an zu renovierenden Exponaten und Kostbarkeiten. Vielmehr kann die Bayerische Schlösserverwaltung (BSV) den eng getakteten Zeitplan dank des Lockdowns sogar entzerren. „Die Handwerker müssen keine Rücksicht auf Gäste nehmen und kommen deutlich schneller voran“, sagt Weber.
Und so sitzt Andjelka Lissner nur wenige Meter oberhalb der verschlossenen Türen in ihrer provisorischen Werkstatt. „Säulensaal“hatte König Ludwig II. diesen Raum einst getauft. Jetzt greift Lissner dort nach einem Pinsel und legt Hand an die prunkvollen Leuchter, die der Wittelsbacher einst anfertigen ließ. Bis zu einen Monat ist sie mit einem der Exponate beschäftigt.
Die Metallrestauratorin trägt die Patina mit Tüchern und Lösungsmitteln ab und bessert Fehlstellen aus. An einer Stange hängen bereits sieben der fertigen Leuchter, sie haben wieder das strahlende Rot angenommen, das sie mit der Zeit verloren hatten. Eine Arbeit, für die es vor allem eines braucht: Gefühl für die Originalsubstanz.
Ein Satz, den auch Maria Heiß bestätigt. Die gelernte Kirchenrestauratorin aus Lenggries steht eine Etage höher in einem Türrahmen. Sie trägt eine weiße Maske über dem Haupt. Mit Corona habe das aber nichts zu tun, sagt die Oberbayerin schmunzelnd. „Das ist, um mich vor den Schadstoffen zu schützen“, sagt sie. Die Holzfachfrau trägt altes, giftiges Pflegemittel vom Eichenholz ab. Eine Sünde aus den 70ern. „Danach wird die Struktur wieder deutlich heller“, erklärt Heiß. Normalerweise müsse sie für eine solche Aktion eine Nachtschicht einlegen. Als Schutz für die Besucher. Jetzt kann sie alles bei Tageslicht machen. „So komme ich deutlich schneller voran und bin konzentrierter als in der Nacht“, sagt sie. Nebenan wird noch am Parkett geschuftet. Ebenfalls eine Arbeit, die bei laufendem Betrieb undenkbar wäre.
Die Schlösserverwaltung habe sich auch deshalb dazu entschieden, Neuschwanstein in jedem Fall noch den gesamten März geschlossen zu halten, unabhängig davon, ob eine Öffnung schon früher möglich wäre, sagt Weber. Man wolle die günstige Lage nutzen. Zehn Firmen und bis zu 30 Mitarbeiter sind zurzeit im Schloss tätig. Teilweise wurden Arbeiten sogar vorgezogen. Ob das alles zu einer Verkürzung der Renovierungszeit führt, ist ungewiss. „Taktgeber für den Bauablauf sind die beiden großen Bauabschnitte im Thronsaal und danach die Königswohnung“, sagt Weber. Schließlich wolle man den Besuchern bei ihrer Rückkehr zumindest einen der Prunkräume unverstellt zeigen.
Das Pärchen vor den verschlossenen Toren hat sich wieder auf den Rückweg gemacht. Die beiden wollen wiederkommen. Den unverstellten Blick aufs Märchenschloss erhaschen. Möglichst noch bevor die Touristenströme zurückkehren.