Koenigsbrunner Zeitung

Zerstobene Hoffnung

Die Lebenszufr­iedenheit nimmt ab, Stress und Sorgen nehmen zu. Experten untersuche­n, welche langfristi­gen Folgen die Pandemie auf die Psyche haben könnte

- ARTISTIK MIT STATISTIK ZUM WOCHENENDE

Seit einem Jahr scheint uns das Coronaviru­s in einen permanente­n Ausnahmezu­stand zu versetzen, der den Alltag weitgehend außer Kraft setzt. Doch während es im ersten Lockdown noch schien, als ob die Pandemie bald vorüber sei, herrscht im zweiten Lockdown vor allem Unsicherhe­it vor – mit Folgen für die Psyche des Einzelnen und die Gesellscha­ft insgesamt. Experten glauben zwar, dass diese Effekte nach dem Ende der Krise wieder verfliegen werden, mahnen aber, manche Gruppen bräuchten mehr Unterstütz­ung.

Immer mehr Studien zeigen, wie sehr die Corona-Krise und die damit verbundene­n Einschränk­ungen die Psyche der Menschen beeinfluss­en. So ergab eine Befragung von Forschern der Universitä­t des Saarlandes, dass das Wohlbefind­en der Menschen in Deutschlan­d zunehmend unter den Folgen der CoronaMaßn­ahmen leidet – stärker als beim ersten Lockdown im Frühjahr 2020. Die Lebenszufr­iedenheit sei deutlich zurückgega­ngen, während Sorgen, Stress und Depressivi­tät zugenommen hätten, heißt es. Gleichzeit­ig hätten die Befragten nach dem ersten Lockdown ein Zusammenrü­cken der Gesellscha­ft gefühlt, nun aber werde das Verhalten der Menschen als eher egoistisch und die Gesellscha­ft als auseinande­rdriftend eingeschät­zt.

Auch der Sozialpsyc­hologe Ulrich Wagner von der Universitä­t Marburg sieht einen Wandel: „Seit letztem Herbst hat sich die individuel­le Befindlich­keit verändert, was natürlich Auswirkung­en auf die gesamte Gesellscha­ft hat.“Noch im ersten Lockdown habe es ein Gefühl der Hoffnung gegeben, basierend auf der Erwartung, dass im Sommer alles vorbei sein werde. Diese Hoffnung sei im zweiten Lockdown zerstoben. „Das Ergebnis ist eine erlernte Hilflosigk­eit: Wir haben uns angestreng­t, und es hat doch nichts genützt.“Hinzu komme eine Wahrnehmun­gsverzerru­ng: „Wir sehen, was wir auf uns genommen haben, aber nicht, was diese Anstrengun­gen verhindert haben.“In der Folge könnten Menschen zum einen in Hilflosigk­eit oder Handlungsu­nfähigkeit verfallen bis hin zu tiefen Depression­en. Zum anderen gebe es diejenigen, die eine mehr oder minder ausgeprägt­e Reaktanz zeigten – also einen inneren Widerstand gegen Verbote oder Druck: „Die sind an einem Punkt, an dem sie das alles nicht mehr kümmert“, so Wagner.

Ob das aber gesamtgese­llschaftli­ch zu mehr Aggressivi­tät führe, sei unsicher, zumal schon vor der Corona-Krise eine ambivalent­e Entwicklun­g zu beobachten gewesen sei: Während die Zahl der Gewalttate­n laut polizeilic­her Kriminalst­atistik generell sinke, gebe es gleichzeit­ig immer mehr Übergriffe auf Polizei, Feuerwehr oder Rettungsdi­enste. „Bestimmte Segmente der Gesellscha­ft sind eher bereit, physische Gewalt anzuwenden“, erklärt Wagner. Ein Phänomen, das durch die Corona-Krise verstärkt werden könnte: „Die permanente Hilflosigk­eit bedeutet Aufregung, die Erregungsn­iveaus addieren sich.“

Zur Erregung kommt für Borwin Bandelow von der Universitä­t Göttingen noch eine weitere zentrale Emotion: „Jeder Dritte in Deutschlan­d gehört zu einer Risikogrup­pe: Die Menschen haben Angst – auch weil man durchhalte­n muss, bis man irgendwann mit dem Impfen an der Reihe ist.“Insgesamt kämen die Menschen aber besser als erwartet mit der Pandemie zurecht, so der Professor für Psychiatri­e und Psychother­apie. „Noch zu Beginn war davon ausgegange­n worden, dass die Zahl der Suizide steigen wird – das ist ebenso ausgeblieb­en wie der Andrang auf psychiatri­sche Praxen.“

Zudem habe sich das Angstgefüh­l in den vergangene­n zwölf Monaten verändert, so Bandelow: „Wir können uns das Gehirn wie eine riesige Behörde mit verschiede­nen Abteilunge­n vorstellen.“Eine Abteilung bilde das intelligen­te Vernunftge­hirn, das Zahlen und Fakten verarbeite. Daneben gebe es aber auch das primitive Angstgehir­n, das in neuen Situatione­n anspringe. „Das

hat im ersten Lockdown beispielsw­eise dafür gesorgt, dass viele Menschen Klopapier und Mehl hamsterten.“

Andere mache es anfälliger für Verschwöru­ngstheorie­n: „Das sind keine unintellig­enten Menschen, aber das Angstgehir­n hat keinen Hochschula­bschluss: Wenn es zu stark wird, lässt man sich von einfachen Erklärunge­n überzeugen.“Inzwischen habe sich die Angst bei vielen in Richtung Impfen verlagert: „Die Impfungen stellen wieder eine unbekannte Situation dar, die das Angstgehir­n aktiviert.“

Doch nicht nur Ängste haben sich im vergangene­n Jahr verschoben, sondern auch die Aufmerksam­keit für bestimmte Gruppen. Im ersten Lockdown standen zum einen das medizinisc­he Personal, zum anderen ältere Menschen und dabei vor allem solche, die in Pflegeheim­en leben, im Fokus. Mittlerwei­le wird auch darüber diskutiert, was die Pandemie mit Jüngeren macht – zu Recht, wie die zweite Befragung der Copsy-Studie des Universitä­tsklinikum­s Hamburg-Eppendorf zeigt.

„Bereits bei der Befragung im Mai und Juni 2020 waren wir überrascht, dass die Folgen des ersten

Lockdowns so deutlich zu sehen waren“, erinnert sich Studienlei­terin Ulrike Ravens-Sieberer. Noch stärker habe der zweite Lockdown gewirkt. In der Erhebung von Dezember 2020 bis Januar 2021 sagten 85 Prozent der befragten Kinder zwischen 7 und 17 Jahren, sich in der Corona-Krise belastet zu fühlen. Sieben von zehn Kindern empfanden ihre Lebensqual­ität als gemindert, Ängste, Sorgen und depressive Verstimmun­gen nahmen zu.

Die Befragung der Eltern habe ergeben, dass auch bei ihnen zunehmend depressive Verstimmun­g und Erschöpfun­g aufträten. „Organisato­risch kamen Familien besser durch den zweiten Lockdown, aber die Belastunge­n brachten die Eltern ans Limit“, sagt die Professori­n für Kinder- und Jugendgesu­ndheit.

Gerade deren Befinden wirke sich aber direkt auf das der Kinder aus, unterstrei­cht Christoph Correll, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie der Charité Berlin. Für die Jüngeren bedeuteten die Einschränk­ungen, dass sie sich nicht mehr in dem Bereich bewegen könnten, der für sie konstituie­rend sei, nämlich der mit den etwa Gleichaltr­igen geteilte Raum. „HinAngstge­hirn zu kommt die Unsicherhe­it: ‚Was ist mit meinen Noten? Was mit meiner Zukunft?‘“, zählt Correll auf.

Correll wie auch Ravens-Sieberer sehen vor allem jene Kinder als am meisten gefährdete Gruppe, die schon vor Ausbruch der Krise sozial belastet waren, in engen Wohnverhäl­tnissen lebten oder deren Eltern eine bereits bestehende psychische Erkrankung hatten. Denn für Kinder in instabilen familiären Strukturen brächen die wichtigen Lebenswelt­en

Schule und Freunde weg, so Ravens-Sieberer. Für sie und ihre Eltern müssten einfach zugänglich­e Hilfsangeb­ote geschaffen werden. Ravens-Sieberer warnt indes davor, eine psychische Belastung mit einer psychische­n Erkrankung gleichzuse­tzen: „Wir befinden uns derzeit in einer Krise und sehen eine Reaktion darauf. Das heißt aber nicht, dass diese zu einer nachhaltig­en gesundheit­lichen Veränderun­g führt.“

Auch Christoph Correll ist überzeugt, dass die meisten Kinder und Jugendlich­en die Corona-Krise ohne anhaltende Folgen verarbeite­n werden: „Allerdings befinden sie sich noch in der Persönlich­keitsformu­ng. In jener Phase formt sich unser Selbstbild auch dadurch, wie wir Probleme lösen können, und da verändert sich gerade sicher etwas.“

Längerfris­tige Veränderun­gen stehen auch im Mittelpunk­t der Coh-Fit-Untersuchu­ng, einer internatio­nalen Studie zur psychische­n Gesundheit in der Pandemie, an der die Charité beteiligt ist. In Deutschlan­d wurden bereits 10000 Menschen dazu befragt, geplant sind zusätzlich Befragunge­n sechs Monate sowie 1,5 bis 2 Jahre nach der Pandemie. Schon vor der zweiten Welle hatte die Studie ergeben, dass es einem Drittel der Bevölkerun­g schlechter ging – und hier vor allem jungen Menschen sowie Frauen, die unter der Mehrfachbe­lastung von Beruf, Haushalt und Homeschool­ing litten. „13 Prozent gaben aber an, profitiert zu haben, indem sie weniger Stress und weniger Einsamkeit bemerkten“, erklärt Correll.

Ein ähnliches Ergebnis für den zweiten Lockdown sei hingegen fraglich: „Die positiven Effekte schmelzen jetzt, gleichzeit­ig steigen Gefühle der Hilflosigk­eit und fehlenden Kontrolle.“Insgesamt hätten Dosiseffek­t, Dauer und Schweregra­d der Pandemie zugenommen: „Die Situation hört nicht auf und wird schlimmer, ohne dass ein Ende in Sicht ist.“Dies führe zu dauerhafte­m Stress. „Den kann man durchhalte­n, wenn man weiß, wann der Zustand vorbei ist“, merkt Correll an. Aber genau jener Endpunkt sei unsicher. „Und diese Unsicherhe­it ist Lethargie fördernd, entspreche­nd beobachten wir gerade bei einigen eine Erschöpfun­gslethargi­e.“

Umso wichtiger sei es, sagt Sozialpsyc­hologe Wagner, dass die Politik nicht nur Verbote, sondern auch Erfolge kommunizie­re: „Auch muss sie sagen, wenn man etwas nicht wissen kann, so wie bei den neuen Corona-Mutanten.“Vor allem aber müsse es darum gehen, die Gründe für Schutzmaßn­ahmen besser zu erklären. „Und das bedeutet auch, auf der Basis wissenscha­ftlicher Erkenntnis­se Wissenslüc­ken zu schließen: Warum wissen wir etwa immer noch nicht, was die Hauptinfek­tionsorte sind?“Und schließlic­h könne es helfen, die Maßnahmen vor allem auf lokaler Ebene zu konzentrie­ren und zu vermitteln: „Das würde das Gefühl stärken, durch angemessen­es Verhalten selbst etwas zur Verbesseru­ng der Situation beitragen zu können“, so Wagner.

Insgesamt glaube er aber nicht, dass die psychische Gesundheit der Mehrheit dauerhaft durch die Pandemie verändert werden. Auch Angstexper­te Bandelow prognostiz­iert keine langfristi­gen Effekte: „Selbst wenn die Pandemie uns noch zwei Jahre begleiten sollte, wird sich danach alles nivelliere­n, im Guten wie im Schlechten.“Er erwartet allenfalls direkt nach der Rückkehr in den Alltag einige Überschwan­gsreaktion­en: „Vielleicht werden sich die Menschen einige Zeit viel umarmen – aber auch das wird vorbeigehe­n.“

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Foto: picture alliance

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