Ist ein Traum, kann nicht wirklich sein
Viel Glück, viel Schwein auf einmal: An der Bayerischen Staatsoper löst ein zauberhafter und saftiger neuer „Rosenkavalier“von Barrie Kosky den schönheitstrunkenen alten „Rosenkavalier“von Otto Schenk ab
München Dem Münchner, dem Oberbayern, dem extra zur Bayerischen Staatsoper angereisten Touristen einen neuen „Rosenkavalier“aufs Ohr und Auge zu drücken, dieser Entschluss des scheidenden Intendanten Nikolaus Bachler kam einem Himmelfahrtskommando gleich. Als theatertraumselig hatte sich jahrzehntelang die OttoSchenk-Rokoko-RosenkavalierAntiquität erwiesen, einst immer wieder zu einem Höhepunkt der Spielzeit durch den rasend genialen Carlos Kleiber getrieben. Was hätte da Schöneres nachfolgen können, das mehr an die Pumpe geht?
Die Angst vor einem „Neurosenkavalier“war also groß. Hatte sich einst Gerard Mortier aus Salzburg nicht verabschiedet, indem er eine „Fledermaus“bei lebendigem Leib qualvoll sezieren ließ durch Hans Neuenfels? Die Rache seinerzeit hatte sogar ein gerichtliches Nachspiel.
Aber Bachler ist nicht Gerard Mortier, und Barrie Kosky, der jetzt in München das Himmelfahrtskommando kommandierte, nicht Neuenfels. Seine Neuinszenierung wurde zum Finale tatsächlich zu einer Himmelfahrt, indem das blutjunge verliebte Paar Sophie/Octavian unter süßen großen Terzen mit dem Publikum an Screen und Bildschirm in den Bühnenhimmel entschwebte.
Zu diesem Zeitpunkt war klar: Das scheinbar Unmögliche wurde möglich gemacht; ein alter Theatertraum durfte vollkommen neu weitergeträumt werden.
Vielleicht gibt es in der Spitze der raffinierteren Regisseure heute tatsächlich nur einen, der die Quadratur des Kreises hinsichtlich eines klugen Genusses beherrscht. Eben Kosky. Er stellt den kritischen Geist ebenso zufrieden wie den Gourmet und den Gourmand; er haut eine – so wie so – reizende Inszenierung nach der anderen heraus. „Meistersinger“in Bayreuth, Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“in Salzburg, Händels „Agrippina“in München.
„Ich schaff mir meine Träume nicht an“, singt die Feldmarschallin. Aber Kosky schafft für diesen „Rosenkavalier“welche an, dreifach, für jeden Akt einen. Und diese Träume wandeln sich; aus erhofftem Glück wird Desillusion. Die Feldmarschallin (groß, reif, ernst: Marlis Petersen), die inmitten gedruckter Rokoko-Tapeten Vergangenheit spielt, hat zwar einen jungen Lover, aber sie ahnt mehr und mehr, dass dieser bald auf und davon sein wird – und sie welkend zurückbleibt. Sophie wiederum (darstellerisch und vokal quirlig: Katharina Konradi) freut sich mit ihrem Vater Faninal (Johannes Martin Kränzle in Idealbesetzung) unbandig, ja euphorisch aufs Heiraten, muss aber umgehend gewahr werden, dass dieser Ochs, der ihr als Baron angetragen wird, bloß ein ordinärer Prolet ist (– und überdies viertelstundenlang über die gesammelten Erfahrungen seiner Fleischeslust referieren kann). Und der Baron gerät dann im 3. Akt – sich die Hände reibend bei seiner Aussicht auf einen Quickie mit Mariandl/Octavian (großartig affektiert in ihrer MannFrau-Liebhaber-Zofen-Doppelstudie: Samantha Hankey) – auf einer Vorstadt-Kleinkunstbühne in eine generalstabsmäßig vorbereitete „Verstehst-Du-Spaß?“-Inszenierung, die ihn vor der Wiener Gesellschaft vollkommen entblößt. Ein
Albtraum. Dieser Ochs, den Christof Fischesser so selbstverliebt wie sängerisch profund gibt, merkt drei Akte lang nicht, was sein Stündlein in Wahrheit geschlagen hat: dass er am Ende seiner herablassenden Lebenskunst angelangt ist.
Den Alternden rinnt die Zeit wie Sand durch die Finger – die drei Uhren im Bühnenbild von Rufus Didwiszus zu Kostümen des 20. Jahrhunderts (Victoria Behr) mahnen schwer... Alles hat sein End´. Nur
Sophie und Octavian sind – fürs Erste – davon ausgenommen. Ist ein Traum, kann nicht wirklich sein... So viel zum Hintergründigen dieser alten bittersüßen Wiener Tragikomödie, die man von Zeit zu Zeit gern wieder sieht.
Kosky wäre freilich nicht Kosky, wenn er nicht gleichzeitig das Subversive pflegen würde, liebevoll. Und so hat dieser „Rosenkavalier“auch parodistische Elemente – die der Gourmet aber nicht als desavouierend empfindet. Der Rosenkavalier nämlich rollt zur Überreichung der silbernen Rose in einer KönigLudwig-II.-Zuckerbäcker-Kutsche auf die Szene, und wenn die verzückte Sophie ihren himmlischen cis-ais-Aufschwung singt, eine der schönsten Passagen der gesamten Opernliteratur, dann blicken sogar die zwei Pferderln verliebt zu ihr hinüber, weil unter ihren Schimmelfellen ja in Wahrheit vier Menschen traben. Eine köstliche Ironie. Distanzschaffend tut sie niemandem weh.
Und das tut auch nicht das aus der Besetzung gestrichene „kleine Neger“-Büblein, das sich bei Kosky in einen alten weißen Mann verwandelt, dem Amor- und Liebesdoktorund Liebessouffleur-Aufgaben zufallen. Wenn Zuneigung zündet in diesem Stück, dann streut der Greis Glitter – oder setzt die (Uhr-)Zeit außer Kraft. Können Verliebte brauchen.
Kurz und gut: Das Ganze ist hier prall und saftig, dort poetisch und zauberhaft in Szene gesetzt. Ein Volltreffer, der für Jahrzehnte rennen kann...
Bei all dem war man freilich auch gespannt auf Vladimir Jurowski als designierten Generalmusikdirektor am Pult vor dem Staatsorchester. Letztgültiges lässt sich jedoch nicht formulieren, da steht der Stream im Weg – und die reduzierte „Corona“-Fassung der Strauss-Partitur von Eberhard Kloke, die noch nicht wirklich vertraut ist im Ohr. Passagenweise erklingt da eher ein konturenreicher Kupferstich als ein changierendes Ölgemälde – was durchaus sinnfällig sein kann: Der ZeitMonolog der Marschallin beginnt ganz intim, quasi als Kunstlied, nur vom Klavier begleitet. Jedenfalls hatten Jurowski und das Staatsorchester die jauchzende Zärtlichkeit der Partitur einerseits, ihren sich überschlagenden Schmiss andererseits im Griff. Und das Terzett der jede für sich etwas begossenen Frauen geriet im Finale zum rauschenden Höhepunkt. Da fehlte sich nix, gar nix.