Wann sind die Kinder dran?
In der Pandemie gibt es viele Schicksale, die nahezu unbemerkt bleiben. Die Geschichte des dreijährigen Felix gehört dazu. Sie ist vor allem eine Mahnung, die Impfungen gegen Corona schnell auf Kinder und Jugendliche auszudehnen
Berlin/Kempten Die Corona-Pandemie ist laut. Politiker reden von „Wumms“und „Bazooka“, auf den Straßen lärmen die Querdenker und überhaupt äußern viele eine Meinung zum Kampf gegen das Virus.
Gelitten und gestorben wird im Stillen.
„Die Situation von Eltern mit kranken Kindern in der Pandemie stand bisher nicht wirklich im Fokus der Aufmerksamkeit“, sagt Katharina Weiler. Sie heißt in Wirklichkeit anders, ihr richtiger Name und Fotos tauchen hier nicht auf, weil Weiler ihre Familie vor zu viel Öffentlichkeit schützen will. Sohn Felix ist gerade drei Jahre alt geworden, er hat einen angeborenen Herzfehler und leidet still unter der Pandemie, die ihn schlimmstenfalls töten kann. „Die einzige Rettung für Menschen wie uns ist das Impfen der Kinder. Ohne Impfung werden wir nie ein normales Leben führen“, sagt seine Mutter.
Die Krankheit von Felix ist komplex, es gibt nicht den einen Begriff, der sie beschreibt. Gesunde Menschen haben zwei Herzkreisläufe. Die rechte Herzkammer pumpt das sauerstoffarme Blut in die Lunge, die linke Herzkammer nimmt das sauerstoffreiche Blut auf und gibt es weiter in den Körperkreislauf. Die Vorhöfe unterstützen dabei. Im Fall von Felix sind die Herzvorhöfe vorhanden, auch die rechte Herzkammer ist da. Die linke Herzkammer jedoch ist nur winzig klein. Alle Gefäße gehen bei Felix von der rechten Herzkammer ab. Eine operative Korrektur ist nicht möglich, weil die linke Herzkammer zu klein ist. Das ist die stark vereinfachte Darstellung der Krankheit, die Felix und seine beiden Eltern von Geburt an in Aufregung hält. Die sich noch steigerte, als Corona kam.
Der Herzfehler von Felix hat zur Folge, dass sein Blut nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt wird. „Wenn Felix eine Treppe hochläuft, wird er sehr schnell kurzatmig. Wenn er zusammen mit anderen Kindern spielt, muss er nach einer bestimmten Zeit mit der Geschwindigkeit runtergehen“, erklärt seine Mutter. Äußere Anzeichen sind dann etwa blaue Lippen.
Jedes Problem für die Lunge gefährdet die ohnehin schwache Sauerstoffversorgung, bedroht das Leben von Felix. Das gilt selbstverständlich nicht nur für Corona, sondern auch für andere Virenerkrankungen, Grippe etwa. Bei der ist jedoch im Gegensatz zu Covid-19 bekannt, wie man sie behandelt. Auch eine Beatmung, wie sie andere Patienten bekommen, wäre bei Felix wegen seiner Erkrankung nicht so einfach. „Eine Corona-Erkrankung kann für Kinder wie Felix lebensgefährlich werden“, sagt seine Mutter.
„Jetzt sind wir ja in der Lage, über Tests in Schulen und Kindergärten nachzudenken. Das hatten wir bis vor kurzem noch gar nicht. Das heißt, Kinder wie Felix konnten am sozialen Leben in keiner Form teilnehmen“, erzählt Weiler.
Tests und Masken sind eine Möglichkeit, Felix zu schützen. Sie reichen aber nicht aus, wie die Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Claudia Schmidtke, bekräftigt. Sie fordert größere Anstrengungen. „Die aktuelle Situation für chronisch herzkranke Kinder und Jugendliche und deren Familien ist nach über einem Jahr in der CoronaPandemie aufgrund der fehlenden Impf-Perspektive nach wie vor unbefriedigend“, sagt sie.
Viele gesunde Menschen halten Corona und die von der Regierung beschlossenen Maßnahmen für eine starke Einschränkung ihres Lebens. Felix lebt praktisch seit mehr als einem Jahr in Quarantäne. „Wir mussten ihn mit Ausbruch der Pandemie aus allen Gruppeneinrichtungen herausnehmen“, berichtet seine Mutter. Die im Allgäu lebende Familie minimierte das Risiko und ging praktisch in den Untergrund. „Seit einem Jahr lassen wir außer ganz wenigen engen Familienangehörigen keinen Menschen mehr ins Haus“, erzählt Weiler am Telefon. Ein Treffen mit Reportern ist gerade keine Option.
Wenn denn mal Angehörige kommen dürfen, beispielsweise die Großeltern, müssen sie eine FFP2Maske tragen und sich vorher fünf Tage in Quarantäne begeben haben. Die Familie hat schon im November angefangen, Antigen-Schnelltests zu nutzen. „Wenn wir uns mit Freunden treffen, dann nur im Freien und nur mit Abstand. Das war auch den Winter über so. Von Geselligkeit kann man da nicht mehr sprechen.“
Weiler beklagt sich nicht. Sie ist Zahnärztin, ihr Mann Lehrer. Beide sind mittlerweile allein berufsbedingt gegen Corona geimpft. „Mein Mann und ich kümmern uns um das Kind. Wir sind in der vergleichsweise glücklichen Lage, dass einen Tag vor dem ersten Lockdown unsere Tochter zur Welt kam und ich in Elternzeit gegangen bin. Ich konnte mich damit praktisch Vollzeit und auch entsprechend finanziell abgesichert um Felix kümmern“, sagt sie.
Weiler will Öffentlichkeit herstellen. Stellvertretend auch für die vielen anderen Familien, die von Corona in ein ähnliches Leben gezwungen wurden.
Das Problem ist, dass es für kleine Kinder keine Impfung gibt – noch nicht. „Felix muss natürlich mal Kontakt zu anderen Kindern haben. Wir können ihn nicht ein Jahr lang einsperren“, sagt Weiler. Kleine Kinder würden beim Spielen nicht den an sich nötigen Abstand einhalten. Felix trage eine FFP2-Maske, die es auch extra für Kinder gebe. Aber trotzdem: „Ohne Impfen keine Normalität.“
Es gibt das Aktionsbündnis Angeborene Herzfehler, ein Zusammenschluss aller bundesweit agierenden Organisationen für Menschen mit diesem Krankheitsbild. „Wenn chronisch kranke Kinder und Jugendliche nicht geimpft werden, ist ihre Teilhabe auf allen gesellschaftlichen Ebenen und auf nicht absehbare Zeit massiv beeinträchtigt“, sagt ihr Sprecher Kai Rüenbrink.
Die Patientenbeauftragte Schmidtke geht einen Schritt weiter. „Da für viele Familienmodelle und Lebensgemeinschaften zwei Kontaktpersonen nicht ausreichend sind, sollte auf Bundesebene die Coronavirus-Impfverordnung dahingehend angepasst werden, dass mehr als zwei enge Kontaktpersonen geimpft werden können“, fordert sie. Gemeinsam mit dem Behindertenbeauftragten der Bundesregierung, Jürgen Dusel, habe sie sich bereits an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn gewandt und um eine entsprechende Änderung der Impfverordnung im Sinne der betroffenen Kinder und Jugendlichen gebeten.
Am vergangenen Donnerstag wurde Felix ein weiteres Mal operiert. In der rund siebenstündigen OP, während der er unter anderem an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen wurde, legten die Ärzte mit einem Goretex-Schlauch eine Art Tunnel, um den passiven Blutfluss in die Lunge weiter zu erhöhen und annähernd eine Trennung der beiden Herzkreisläufe zu erreichen. Damit soll sich auch der Sauerstoffanteil im Blut erhöhen und Felix ein Leben ermöglichen, das dem gesunder Kinder zumindest nahe kommt. Aus dem Schneider ist der Dreijährige damit noch nicht.
„Das ist rein palliativ. Es ist eine Überbrückungsmöglichkeit, noch keine endgültige Lösung“, erklärt seine Mutter. Die operierenden Ärzte gehen davon aus, dass die Lebenserwartung von Kindern wie Felix deutlich niedriger ist als bei gesunden Kindern. Er könnte vielleicht die nächsten 20 bis 30 Jahre zurechtkommen, bräuchte dann aber nach derzeitigem Stand eine Herztransplantation. Die berechtigten Hoffnungen seiner Familie richten sich darauf, dass es dann neue medizinische Verfahren gibt, die Felix weiterhelfen. Und Impfungen. Die nicht nur kranken Kindern helfen würden.
Denn aufgrund der hohen Mobilität und dem vielzähligen Kontakt in Betreuungs- und Bildungseinrichtungen spielen Kinder als Krankheitsüberträger eine zentrale Rolle in der Bevölkerung. Kinder und Jugendliche erkranken im Vergleich zu Erwachsenen zwar selten schwer an Covid-19, allerdings mehren sich die Hinweise, dass sie nach milden und asymptomatischen Verläufen langfristig unter den Folgen einer Infektion leiden können. In Einzelfällen traten schon Entzündungen in mehreren Organen auf, berichtet die Stiftung Science Media Center.
Die Pharmahersteller haben deshalb begonnen, junge Menschen in ihre laufenden klinischen Studien einzuschließen. So sind beispielsweise von Biontech/Pfizer und Moderna entsprechende Untersuchungen
bekannt. Noch liegt der Fokus auf älteren Kindern, doch auch das ändert sich – und es muss sich dringend ändern, wie der Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Uniklinik Köln, Jörg Dötsch, betont. „Sowohl im Hinblick auf den Individualschutz als auch im Hinblick auf den Bevölkerungsschutz besteht die Notwendigkeit, Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren so bald wie möglich gegen Covid-19 zu impfen“, sagt Dötsch, der auch Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin ist.
Die Patientenbeauftragte Schmidtke ahnt, dass die aktuelle Situation „insbesondere jüngere chronisch schwer kranke Kinder und ihre Eltern perspektivisch noch längere Zeit vor Herausforderungen stellen wird“. Die Hersteller hätten mit den Tests zu Sicherheit, Verträglichkeit und Wirksamkeit der Corona-Impfstoffe bei Kindern von sechs Monaten bis elf Jahren gerade erst begonnen, sagt die Professorin und CDU-Abgeordnete. Es sei daher besonders wichtig, die bekannten
Nun gibt es für die Mutter eine „ganz große Hoffnung“
Schutzmaßnahmen einzuhalten.
Die Familie Weiler machen erste Meldungen über Anwendungsmöglichkeiten von Impfstoffen auch bei kleinen Kindern „natürlich unglaublich glücklich“. Felix’ Mutter spricht von einer „ganz großen Hoffnung“. Auch die betreuenden Spezialisten seien optimistisch, dass es jetzt vorangehen könne. Notwendig seien allerdings fundierte Studien, damit man im Einvernehmen mit den Fachärzten auf ein normales Leben umstellen könne.
Die Familie braucht Geduld. Während andere sich schon auf den Sommerurlaub freuen, wird Felix noch viele Monate unter CoronaBedingungen leben müssen. „Meine Einschätzung ist, und sie deckt sich mit der von anderen betroffenen Eltern“, sagt Katharina Weiler, „dass wir im nächsten Winter so weit sein könnten.“