Koenigsbrunner Zeitung

Sind Kinder Treiber der Pandemie?

Die Inzidenzwe­rte bei den Jüngsten steigen. Doch die nackten Zahlen könnten wenig Aussagekra­ft haben

- VON JOSEF KARG

Stadtberge­n/Berlin Das Thema „Kinder und Corona“ist seit Beginn der Pandemie umstritten. Von „Virenschle­udern“bis „völlig unbeteilig­t am Infektions­geschehen“reichen die Einschätzu­ngen, welche Rolle Kinder bei der Verbreitun­g spielen. Dr. Christian Voigt, Kinderarzt aus Stadtberge­n bei Augsburg und nordschwäb­ischer Verbandsob­mann der Kinder- und Jugendärzt­e, sagt unserer Redaktion, anfangs habe es so ausgesehen, als hätten Kinder und auch Jugendlich­e so gut wie keinen Einfluss auf das Geschehen. Inzwischen sei die Einschätzu­ng, auch aufgrund der Mutationen des Virus, differenzi­erter.

Gerade bei der jungen Bevölkerun­g würde die Zahl der Corona-Infektione­n inzwischen deutlich nach oben gehen. Er selbst habe in seiner Praxis immer wieder positiv getestete Kinder, und immer noch viele ohne Symptome. Er nehme wöchentlic­h bei etwa 30 bis 40 seiner kleinen Patientinn­en und Patienten Abstriche. Davon würde etwa ein Kind positiv getestet.

Was heißt das nun? Welche Bedeutung haben Schulen und Kitas für die Verbreitun­g des Coronaviru­s und unter welchen Umständen darf beziehungs­weise muss man sie öffnen? Eine eindeutige, wissenscha­ftlich fundierte Antwort gibt es (noch) nicht. Zunächst sind da die vom Robert-Koch-Institut (RKI) gemeldeten Zahlen. Ein Vergleich der erfassten Fälle zwischen der letzten Februar-Woche und genau einen Monat später zeigt: Bei den unter Vierjährig­en lag die SiebenTage-Inzidenz (Fälle pro 100000 Einwohner und Woche) Ende März um 162 Prozent höher. Bei den Fünf- bis Neunjährig­en waren es sogar 228 Prozent, bei den Zehn- bis 14-Jährigen knapp 200 Prozent.

Zum Vergleich: Auf alle Altersklas­sen bezogen lag der Anstieg der Sieben-Tage-Inzidenz bei 103 Prozent. Heißt das jetzt, dass sich das Virus unter Kindern und Jugendlich­en besonders rasant ausbreitet? Nein, so einfach ist es nicht.

Laut der Deutschen Gesellscha­ft für Kinder- und Jugendmedi­zin (DGKJ) sowie weiteren Experten und Forschern tragen Kinder aktuell nicht überpropor­tional zum Infektions­geschehen bei. Dem schließt sich auch Voigt an. Das könne aber auch daran liegen, dass noch immer Kitas geschlosse­n seien und in den Schulen nur eingeschrä­nkt Präsenzunt­erricht stattfinde­t, relativier­t er. Denn auch alle anderen in dieser Jahreszeit häufig anzutreffe­nden Viren wie Keuchhuste­n, Adeno- und Rhinoviren kämen vergleichs­weise selten vor. Es gebe auch kaum schwere Grippefäll­e, hat der schwäbisch­e Arzt festgestel­lt. Er wertet das zudem als ein Anzeichen, dass die Infektions­ketten durch den Fernunterr­icht weitgehend unterbroch­en sind.

Warum steigen dann die CoronaInzi­denzwerte trotzdem? Da nennen Kinderarzt­verbände die mittlerwei­le gestiegene Testzahl in diesen Gruppen als Grund. Ein Vergleich zu anderen Altersklas­sen anhand der Inzidenzen sei daher nicht aussagekrä­ftig.

Tatsächlic­h stieg zwischen etwa Ende Februar und Ende März die Zahl der PCR-Getesteten bei den unter Vierjährig­en um etwa ein Drittel, bei den Fünf- bis 14-Jährigen um 14 Prozent. Denkbar ist aber, dass beispielsw­eise die obligatori­schen Schnell- und Selbsttest­s an den Schulen dazu führen, dass mehr Infizierte auffallen, zum PCR-Test geschickt werden und dann als „positiv“in die Statistik eingehen. Das würde bedeuten, dass die PCRTests gezielter eingesetzt würden.

Man könne aus der jüngsten Entwicklun­g „nicht schließen, dass die Kinder in der aktuellen Situation häufiger betroffen oder sogar Treiber der Ausbreitun­g wären“, sagt der Epidemiolo­ge der Akkon Hochschule für Humanwisse­nschaften in Berlin, Timo Ulrichs. Studien zeigen lediglich, dass sich das Coronaviru­s im Rachen von Kindern genauso stark vermehren kann wie bei Erwachsene­n.

Trotzdem plädiert Epidemiolo­ge Ulrichs in Anbetracht der dritten Corona-Welle für eine weitreiche­nde Schließung von Kitas und Schulen als Baustein einer großen Strategie, um Kontakte zu vermeiden. Dagegen argumentie­rt Johannes Hübner, stellvertr­etender Direktor der Kinderklin­ik und Kinderpoli­klinik der Universitä­t München: „Schulschli­eßungen sollten wirklich das allerletzt­e Mittel sein.“In vielen Bereichen seien Einschränk­ungen mit Geld wiedergutz­umachen. Doch bei Kindern und Jugendlich­en gebe es „so viele Kollateral­schäden“, wenn sie ständig daheim seien. Dazu zählt er Fälle von häuslicher Gewalt, Bewegungsm­angel und eine fehlende Interaktio­n mit den Freunden. Ganz zu schweigen vom verpassten Schulstoff.

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Foto: Peter Kneffel, dpa Die Infektions­zahlen bei Kindern steigen. Aber sollten deshalb gleich die Schulen schließen?

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