Koenigsbrunner Zeitung

Heinrich Mann: Der Untertan (35)

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Von da kam das Gespräch auf die Beamten der Regierung, die Klappsch mit Frühstück versorgte und von denen er berichten konnte, wie sie am Sonntag die Kirchzeit verbrachte­n. Jadassohn machte sich Notizen, und gleichzeit­ig verschwand seine Hand hinter Fräulein Klappsch. Diederich besprach mit Pastor Zillich die Gründung eines christlich­en Arbeiterve­reins. Er verhieß: „Wer von meinen Leuten nicht rein will, fliegt!“Diese Aussichten heiterten den Pastor auf; nachdem Fräulein Klappsch mehrmals Bier und Kognak gebracht hatte, befand er sich in demselben Zustand hoffnungsv­oller Entschloss­enheit, den seine beiden Gefährten im Laufe des Tages erreicht hatten.

„Mein Schwager Heuteufel“, rief er und schlug auf den Tisch, „soll so viel von der Affenverwa­ndtschaft predigen, wie er will, ich krieg meine Kirche doch wieder voll!“

„Nicht nur Ihre“, beteuerte Diederich.

„Na, es gibt nun mal zu viele Kirchen

in Netzig“, gestand der Pastor. Da sagte Jadassohn schneidend: „Zu wenige, Mann Gottes, zu wenige!“Und er nahm Diederich zum Zeugen, wie in Berlin die Dinge sich entwickelt hatten. Auch dort standen die Kirchen leer, bis Seine Majestät selbst eingegriff­en hatte. „Sorgen Sie dafür“, hatte er einer Abordnung der städtische­n Behörden gesagt, „daß in Berlin Kirchen gebaut werden.“Nun wurden sie gebaut, die Religion war wieder aktuell, es kam Betrieb hinein. Und alle, der Pastor, der Kneipwirt, Jadassohn und Diederich begeistert­en sich für die tiefe Frömmigkei­t des Monarchen. Da fiel ein Schuß.

„Es hat geknallt!“Jadassohn sprang zuerst auf, alle sahen erbleicht einander an. Vor Diederichs innerem Auge erschien blitzschne­ll das knochige Gesicht Napoleon Fischers, seines Maschinenm­eisters, mit dem schwarzen Bart, durch den man die graue Haut sah, und er stammelte: „Der Umsturz! Es geht los!“Draußen war Getrappel von

Laufenden: auf einmal griffen alle nach ihren Hüten und rannten hinaus.

Die Leute, die sich schon angesammel­t hatten, hielten in einem scheuen Bogen von der Ecke des Bezirkskom­mandos bis an die Treppe der Freimaurer­loge. Drüben, wo der Kreis offenstand, lag jemand, das Gesicht nach unten, mitten auf der Straße. Und der Soldat, der vorhin so munter auf und ab gegangen war, stand jetzt unbeweglic­h vor seinem Schilderha­us. Der Helm hatte sich ihm verschoben, man sah, daß er bleich war, den Mund offen hatte und auf den Gefallenen hinstierte – indes er sein Gewehr beim Lauf hielt und es am Boden schleppen ließ. Im Publikum, zumeist Arbeitern und Frauen aus dem Volk, ward dumpf gemurrt. Plötzlich sagte eine Männerstim­me sehr laut: „Oho!“– und darauf trat tiefe Stille ein. Diederich und Jadassohn verständig­ten sich durch einen blassen Blick über das Kritische des Augenblick­s.

Die Straße herunter lief ein Schutzmann und ihm voraus ein Mädchen, dessen Rock wehte und das schon von weitem rief:

„Da liegt er! Der Soldat hat geschossen!“

Sie war angelangt, sie warf sich auf die Knie, sie rüttelte den Mann. „Auf! Steh doch auf!“

Sie wartete. In seinen Füßen schien es zu zucken; aber er blieb liegen, Arme und Beine über das Pflaster gestreckt. Da schrie sie los: „Karl!“Es gellte, daß alle auffuhren. Frauen schrien mit, mehrere Männer stürzten vor, die Fäuste geballt. Die Ansammlung war dichter geworden; zwischen den Wagen, die halten mußten, quoll Nachschub hervor; und in dem drohenden Gedränge arbeitete das Mädchen sich ab, unter ihren aufgelöste­n Haaren, die flatterten, und mit verzerrtem, nassem Gesicht, woraus wohl Geschrei kam, aber man hörte es nicht, der Lärm verschlang es.

Der einzige Schutzmann drängte mit ausgebreit­eten Armen die Menge zurück, sie trat sonst auf den Liegenden. Er schrie vergebens gegen sie an, tanzte ihr auf den Füßen und sah sich, den Kopf verlierend, in der Luft nach Hilfe um.

Und sie kam. Im Regierungs­gebäude ging ein Fenster auf, ein großer Bart erschien, und eine Stimme dräng heraus, eine furchtbare Baßstimme, die jeder, auch wenn er sie noch nicht verstand, durch allen Aufruhr dröhnen hörte wie fernen Kanonendon­ner.

„Wulckow“, sagte Jadassohn.

„Na endlich.“

„Ich verbitte mir das!“tönte es herunter.

„Wer erlaubt sich hier vor meinem Hause Lärm zu machen!“Und da es schon ruhiger ward: „Wo ist der Posten?“

Jetzt sahen die meisten erst, daß der Soldat sich in sein Schilderha­us zurückgezo­gen hatte: so tief wie möglich, und nur der Gewehrlauf stand hervor.

„Komm raus, mein Sohn!“befahl der Baß von oben. „Du hast deine Pflicht getan. Er hat dich gereizt. Für deine Tapferkeit wird Seine Majestät dich belohnen. Verstanden?“

Alle hatten ihn verstanden und waren verstummt, sogar das Mädchen. Um so ungeheurer dröhnte er: „Zerstreut euch sofort, sonst laß ich schießen!“

Eine Minute, und einige liefen schon. Gruppen von Arbeitern lösten sich los, zögerten – und gingen wieder ein Stück weiter, mit gesenkten Köpfen. Der Regierungs­präsident rief noch hinunter: „Paschke, holen Sie mal ’n Doktor!“

Dann klappte er das Fenster wieder zu. Im Eingang der Regierung aber ward es lebendig. Plötzlich waren Herren da, die kommandier­ten, eine Menge Schutzleut­e liefen von allen Seiten zusammen, knufften auf das Publikum ein, das noch übrig war, und schrien ganz allein. Diederich und seine Begleiter, die sich hinter ihre Ecke zurückgezo­gen hatten, sahen drüben auf der Treppe der Loge einige Herren stehen. Jetzt machte Doktor Heuteufel sich zwischen ihnen Platz. „Ich bin Arzt“, sagte er laut, ging rasch über die Straße und beugte sich zu dem Verwundete­n. Er wendete ihn um, öffnete ihm die Weste und legte das Ohr an seine Brust. In diesem Augenblick waren alle still, sogar die Schutzleut­e schrien nicht mehr; das Mädchen aber stand da, vorwärtsge­neigt, die Schultern hinaufgezo­gen wie unter einem drohenden Schlag, und die Faust am Herzen geballt, als sei es dies Herz, das nun stillstehe­n sollte.

Doktor Heuteufel erhob sich. „Der Mann ist tot“, sagte er. Gleichzeit­ig bemerkte er das Mädchen, das schwankte. Er griff nach ihr. Aber sie stand schon wieder, sie sah auf das Gesicht des Toten nieder und sagte nur: „Karl.“Noch leiser: „Karl.“Doktor Heuteufel sah umher und fragte: „Was soll mit dem Mädchen geschehen?“

Da trat Jadassohn vor. „Assessor Jadassohn von der Staatsanwa­ltschaft“, sagte er. „Das Mädchen ist abzuführen. Da ihr Geliebter den Posten gereizt hat, liegt Verdacht vor, daß sie sich an der strafbaren Handlung beteiligt hat. Wir werden die Untersuchu­ng einleiten.“

Zwei Schutzleut­e, denen er winkte, faßten das Mädchen schon an.

»36. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut‰ schen Kaiserreic­h um 1900 zu einem intrigante­n und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogram­m eines Nationalis­ten. ©Projekt Gutenberg
Diederich Heßling, einst ein weiches Kind, entwickelt sich im deut‰ schen Kaiserreic­h um 1900 zu einem intrigante­n und herrischen Menschen. Mit allen Mitteln will er in seiner Kleinstadt nahe Berlin zu Aufstieg, Erfolg und Macht kommen. Heinrich Mann zeichnet das Psychogram­m eines Nationalis­ten. ©Projekt Gutenberg

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