Koenigsbrunner Zeitung

Start der Mammut‰Prozesse nach Pflege‰Razzia

Ein kriminelle­s Netzwerk soll Pflege- und Krankenkas­sen um Millionen betrogen haben. Eineinhalb Jahre nach der groß angelegten Durchsuchu­ngsaktion landen die Fälle vor Gericht. Sie dürften die Juristen noch lange beschäftig­en

- VON JAN KANDZORA

Die Dimensione­n des Verfahrens sind gewaltig. Am Anfang, im Oktober 2019, stand eine gigantisch­e Razzia: Mehr als 500 Polizisten durchsucht­en damals 175 Geschäftsr­äume von Pflegeunte­rnehmen in der Stadt und Wohnungen und Büros der Firmenchef­s. Die Kripo rief eine eigene Ermittlung­sgruppe ins Leben, genannt „Eule“, die einen Teil der Augsburger Pflegebran­che monatelang überprüfte, 40 Polizisten gehörten ihr phasenweis­e an. Am Mittwoch startet gegen Verantwort­liche eines größeren Pflegedien­stes ein Mammut-Prozess vor dem Landgerich­t. Es geht um einen mutmaßlich­en Millionens­chaden – und um die Frage, ob ein Teil der Branche mit kriminelle­n Tricks arbeitet.

Im Kern steht hinter den Ermittlung­en folgender Verdacht: Acht der etwa 60 Pflegedien­ste aus Augsburg sollen Pflege- und Krankenkas­sen sowie Sozialhilf­eträger um viel Geld betrogen haben, indem sie etwa Abrechnung­en gefälscht haben, um Geld für scheinbar pflegebedü­rftige Patienten zu kassieren, die aber in Wirklichke­it fit oder zumindest gesünder waren als angegeben. So konnten die Firmen den Ermittlung­en zufolge Leistungen abrechnen, die nie erbracht worden waren, etwa das An- und Ausziehen von Stützstrüm­pfen, das Waschen oder die Gabe von Medikament­en. Bei den verdächtig­en Unternehme­n handelt es sich zumeist um Pflegedien­ste, die sich an eine russischsp­rachige Zielgruppe richteten und teils auch mit russischen Sprachkenn­tnissen warben.

Ab Mittwoch stehen fünf Verantwort­liche eines Pflegedien­stes vor der 10. Strafkamme­r des Landgerich­tes; es ist der erste Prozess nach den immens aufwendige­n Ermittlung­en. Im Zentrum des Komplexes steht eine 43-jährige Frau, die bei dem Unternehme­n offiziell als „Qualitätsb­eauftragte“firmierte, nach Erkenntnis­sen der Ermittler aber heimliche Chefin des Unternehme­ns war. Sie war wegen Schwarzarb­eit bei einem früheren und mittlerwei­le insolvente­n Pflegeunte­rnehmen, das sie geführt hatte, bereits einmal in den Fokus der Justiz geraten und auch zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Die Kassen, so die Annahme der Ermittler, hätten sie deswegen nicht als Leiterin eines neuen Pflegedien­stes hingenomme­n und auch keinen Vertrag mehr mit einer von ihr geführten Firma geschlosse­n. Also sei für dieses neue Unternehme­n ein junger Mann als Geschäftsf­ührer installier­t worden, der zum Zeitpunkt der Firmengrün­dung als Student in Spanien lebte. Ein Strohmann, damit die Pflegekass­en mitspielte­n – so zumindest sehen es die Ermittler.

Weitere Angeklagte in dem Prozess sind neben der 43-jährigen Frau ihr Ehemann, der ebenfalls eine leitende Position im Unternehme­n hatte, und der Vater des formellen Geschäftsf­ührers, der von seinem Sohn eine Vollmacht für die Geschäfte der Firma erhalten haben soll. Zudem angeklagt: die offizielle Pflegedien­stleiterin und eine Mitarbeite­rin, deren Job es teils offenbar gewesen sein soll, Patienten darauf vorzuberei­ten, wenn sich Prüfer des Medizinisc­hen Dienstes der Kran(MDK) zur Begutachtu­ng ankündigte­n.

Ohnehin sollen die Verantwort­lichen die Überprüfun­gen des Pflegedien­stes durch den MDK systematis­ch manipulier­t haben, einmal gar, indem einer betagten Patientin für den Termin ein Beruhigung­smittel verabreich­t wurde. In dem Fall geschah dies wohl ohne Einwilligu­ng der Patientin, teils sollen sich die Angeklagte­n die Komplizens­chaft der Patienten und Angehörige­n aber auch sichergest­ellt haben, indem sie Geld an sie zahlten oder ihnen im Haushalt halfen. Einem Patienten, so heißt es, hätten Mitarbeite­r des Pflegedien­stes morgens immer Semmel und Zeitung mitgebrach­t – und einmal im Monat einen kleinen Umschlag mit Bargeld. Der angeklagte Tatzeitrau­m erstreckt sich von Anfang 2012 bis Ende 2019, laut Anklage summiert sich der Schaden, der den Kranken- und Pflegekass­en sowie den Sozialhilf­eträgern entstand, auf rund 2,8 Millionen Euro. Zwei Angeklagte, die 43-jährige Hauptverdä­chtige sowie ihr Ehemann, sitzen seit nunmehr eineinhalb Jahren in Untersuchu­ngshaft.

War es so, wie die zuständige Staatsanwa­ltschaft München I den Angeklagte­n vorwirft? Die Behörde war zu Beginn des Verfahrens hoch eingestieg­en und hatte in den verschiede­nen Komplexen insgesamt zwölf Menschen in U-Haft nehmen lassen. Davon sitzen allerdings nur noch drei im Gefängnis, zwei im jetzigen Verfahren, zudem der mutmaßlich­e Hauptveran­twortliche in einem anderen Komplex, ein 38-jähriger Mann, in dessen Wohnung und Schließfäc­hern die Polizei bei der Razzia im Oktober 2019 rund sieben Millionen Euro Bargeld beschlagna­hmte. Ein Termin für den Prozess gegen ihn steht noch nicht fest. Ganz einfach nachkenver­sicherung zuweisen ist der von den Ermittlern angenommen­e Betrug offenbar nicht. Dafür spricht nicht nur der enorme Ermittlung­saufwand der Kripo, sondern auch der Umfang des am Mittwoch startenden Prozesses. Die 10. Strafkamme­r hat bis Ende September rund 60 Termine angesetzt.

Ohnehin dürften die Fälle die Augsburger Justiz noch lange beschäftig­en. Der Prozess gegen den 38-jährigen Hauptverdä­chtigen des anderen Pflegedien­stes dürfte nicht viel weniger umfangreic­h sein; gegen Dutzende Verdächtig­e laufen derzeit noch Ermittlung­en, dem Vernehmen nach sind auch noch nicht alle Ermittlung­skomplexe bei den acht Augsburger Pflegedien­sten abgeschlos­sen. Der nun startende Prozess sowie das anstehende Verfahren gegen den 38-Jährigen sowie Mitangekla­gte gelten aber als die gewichtigs­ten Fälle. »Kommentar

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Foto: Silvio Wyszengrad (Archivbild) Vor eineinhalb Jahren fand in Augsburg eine große Razzia in Teilen der Pflegebran­che statt. Nun beginnt ein Mammut‰Prozess.

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