Gerangel um nächtliche Ausgangssperren
Kritiker zweifeln Nutzen an – das sagt die Wissenschaft zum Thema
Augsburg Es ist der Punkt im Infektionsschutzgesetz, um den am heftigsten gerungen wird: Sobald die Inzidenzwerte an drei aufeinanderfolgenden Tagen über 100 steigen, sollen nächtliche Ausgangssperren verhängt werden. Von 21 bis 5 Uhr ist dann der Aufenthalt außerhalb einer Wohnung oder eines dazugehörigen Gartens im Grundsatz nicht erlaubt. Zahlreiche europäische Länder wie Portugal und Irland nutzten das Mittel, um die eigenen Pandemiezahlen zu drücken. Kritiker halten dem entgegen: Der Nutzen der Maßnahme sei nicht belegt. „Pauschale und flächendeckende Ausgangssperren halten wir für unverhältnismäßig“, sagt FDP-Chef Christian Lindner unserer Redaktion. „Sie sind ein zu großer Eingriff in die Freiheit. Außerdem bringen sie uns bei der Pandemiebekämpfung nicht weiter.“Von einem geimpften Paar etwa, das abends spazieren gehen wolle, gehe keine Gefahr für die Allgemeinheit aus. Es sei richtig, große Wohnungspartys zum Beispiel zu verhindern. „Die gesamte Bevölkerung allerdings in ihrer Bewegungsfreiheit massiv einzuschränken, ist dafür nicht das geeignete Mittel“, sagt Lindner.
Tatsächlich ist die Frage nach dem Nutzen so einfach nicht zu beantworten. Laut Robert-Koch-Institut ist einer der wichtigsten Ansteckungsorte – neben Schulen und beruflichem Umfeld – nach wie vor der private Haushalt. Ziel der Ausgangssperren ist es, dort Treffen zu minimieren. Durch die abendlichen Einschränkungen sollen Nach-Feierabend-Besuche unattraktiv werden. Um nicht Wohnungen kontrollieren zu müssen und damit einen weiteren Tabubruch zu begehen, nutzt die Politik die pauschale Beschränkung. „Es gibt eine Korrelation zwischen Mobilität und Infektionsgeschehen, und jede Maßnahme, die Mobilität verringert, sollte in Betracht gezogen werden durch die Politik, die das abzuwägen und zu entscheiden hat“, sagt Susanne Glasmacher, Sprecherin des RKI.
Eine Untersuchung britischer Wissenschaftler zeigt, dass sich nächtliche Ausgangsbeschränkungen als Ergänzung zu anderen Regeln durchaus auswirken auf die Corona-Lage. Der R-Wert, der angibt, wie viele Personen ein Infizierter ansteckt, konnte nach Berechnungen der Forscher damit um rund 15 Prozent gesenkt werden. Forscher der TU Berlin bestätigen dies. „Es ist in der Wissenschaft inzwischen grundsätzlich akzeptiert, dass vor allem ungeschützte Kontakte in Innenräumen vermieden werden müssen“, schreibt die Gruppe um den Mobilitätsforscher Kai Nagel. Gegenseitige Besuche könnten den R-Wert um 0,6 Punkte erhöhen. Und doch schränken die Experten ein: „Eine abendliche und nächtliche Ausgangssperre reduziert laut unseren Modellen vor allem private Kontakte. Es ist allerdings anzunehmen, dass die Bevölkerung mittelfristig auf frühere Besuchszeiten ausweicht, insofern ist dies ein Werkzeug, welches relativ schnell stumpf werden dürfte.“Ihr Vorschlag geht deshalb noch weiter: Sie fordern ein Verbot aller privaten Kontakte, so wie es Großbritannien vorgemacht hat.
Ganz neu ist das Instrument der nächtlichen Ausgangsbeschränkung in Deutschland nicht. Bayern etwa hatte für alle Corona-Hotspots entsprechende Regeln erlassen und unterstützt deshalb den aktuellen Vorstoß. „Bei allen Maßnahmen, die wir ergreifen, muss unser Ziel klar sein: Wir brauchen einen spürbaren und dauerhaften Rückgang der Infektionszahlen“, sagt Gesundheitsminister Klaus Holetschek. „Die nächtliche Ausgangssperre leistet dazu einen wichtigen Beitrag.“Die erste Welle habe gezeigt, dass zuverlässig eingehaltene kontaktreduzierende Maßnahmen maßgeblich zur Eindämmung der Pandemie beitragen würden.
Ingolstadt Der letzte Passagier steht einsam im grellen Licht der Wartehalle. Ein Mann mit grauem Pferdeschwanz, Rundbrille und der Maske auf halb acht. Laut Uhr des Ingolstädter Hauptbahnhofs ist es kurz vor 23 Uhr. Vor einer halben Stunde hat der Mann seinen Kochkittel in einem Restaurant in Kelheim abgelegt und ist mit dem Auto hergefahren. Jetzt lässt er seinen Blick durch die leere Ladenzeile des Bahnhofs schweifen.
„Die Ausgangssperre hätte viel früher kommen müssen“, murmelt er. Um 23.09 Uhr wird er in den Zug nach Augsburg steigen. Wochenendbesuch bei den Kindern. Er wird wie so oft in letzter Zeit vermutlich der einzige im Waggon sein. Und er wird, ohne es zu wissen, gegen jene Regel verstoßen, die er so befürwortet. Zwölfte bayerische Infekt ions schutzmaßnahmen verordnung, Paragraf 26: Familien besuch ist dort nicht als Begründung aufgeführt, um nach 22 Uhr noch seine Wohnung verlassen zu dürfen.
Ingolstadt ist seit Anfang April Hotspot. Es gilt die Ausgangssperre. Ein Koch, der nach Feierabend über die freien Tage zu seiner Familie fährt, allein in einem Zug, handelt gegen geltendes Gesetz. Strafe: 500 Euro.
Wie viele Einschränkungen des alltäglichen Lebens hält eine Gesellschaft aus? Was ist möglich? Was nicht? Sieht man Corona-Maßnahmen als Klausurprüfung für einen freiheitlich-demokratischen Staat an, dann gleicht die Ausgangssperre der schweren Erörterungsfrage. Der mit den meisten Punkten. Der, die man lösen muss, um zu bestehen.
Das Bundeskabinett in Berlin beantwortet sie am Dienstag wie folgt: Von 21 Uhr bis 5 Uhr sollen sich Bürger in deutschen Corona-Hotspots, also in Gebieten mit einer Inzidenz über 100, nicht mehr unbefugt außerhalb ihrer Wohnung aufhalten. So steht es neben anderen Maßnahmen für die sogenannte Bundesnotbremse in einem Gesetzentwurf. Bundestag und Bundesrat müssen ihm noch zustimmen.
Schnell regte sich Widerstand. Grünen-Chef Robert Habeck bezeichnete die Ausgangssperre als „unverhältnismäßig“, Christian Lindner von der FDP als „verfassungsrechtlich fragwürdig“. Linke und Freie Wähler sehen die Maßnahme ebenfalls kritisch, die AfD sowieso. Das Rausgehverbot, ein Reibungspunkt.
Man hätte für diese Geschichte gerne denen über die Schulter geschaut, die kontrollieren müssen, ob ein Mann nachts im Zug zu seiner Familie fährt, was verboten sein kann, oder zu seiner todkranken Mutter – was ein Ausnahmegrund wäre. Doch Bayerns Polizei lässt sich während der Pandemie grundsätzlich nicht begleiten. Auch das Ordnungsamt Ingolstadt sagte ab. Also geht es auf eigene Faust durch die Nacht, ganz legal, ein Schreiben der Redaktion – ein Arbeitsnachweis – gilt als Passierschein.
Ampel auf Grün, ein weißer Pickup braust davon. Schon spät, 22.30 Uhr. Zu spät eigentlich. Die Kreuzung im Süden Ingolstadts ist noch einigermaßen frequentiert. Zwei Mädchen radeln vergnügt durch die Nacht, ein Mann spaziert mit einer Aluschale unter dem Arm. Die Juniorchefin von Top Pizza, einem dieser Läden, die von einer „Pizza Bahamas“bis zu chinesischen Eiernudeln so ziemlich alles liefern, sagt: „Wegen der Ausgangssperre bestellen die Leute sogar noch mehr.“
In den Wohnblocks brennt noch Licht. Zwei glühende Zigaretten auf einem Balkon. Stimmen hier, leise Musik da, Fernsehflimmern überall. Das TV-Programm scheint für die meisten der Freitagabendbegleiter zu sein. Was läuft, sieht man nicht. Die meisten Vorhänge sind zugezogen. Die neueste Netflix-Serie? B-Promis beim Tangotanzen? Die Nachrichten? Die Welt dreht sich trotz Ausgangssperre weiter an diesem Tag. Es ist der Todestag von Prinz Philip. Zwei Russen und ein US-Amerikaner werden zur Weltraumstation ISS geschossen. Der Kanzlerkandidatenkampf der Union spitzt sich zu. Und in Berlin konkretisieren sich die Pläne für die Bundesnotbremse – und damit für eine bundesweite Ausgangssperre.
Zum letzten Mal hatte es diese Maßnahme hierzulande 1945 gegeben. In den Wirren der Nachkriegszeit verfügte das US-Militär einen „Zapfenstreich“von 18 Uhr bis 7 Uhr. Die Patrouillen hatten einen Schießbefehl. Davon ist Deutschland heutzutage natürlich meilenweit entfernt. Doch etwas an Kriegszeiten erinnerte es schon, als Mitte März 2020 der Katastrophenschutz durch das oberpfälzische Städtchen Mitterteich fuhr und die Bevölkerung mit Lautsprecherdurchsagen und Handzetteln warnte: Es ging um die erste lokale und ganztägige Corona-Ausgangssperre in der Bundesrepublik. Die Einwohner durften im Prinzip nur noch zum Einkaufen, zu Arztbesuchen und zur Arbeit ihre Wohnungen verlassen.
Kurz darauf setzte Bayern als erstes Bundesland eine ganztägige Ausgangsbeschränkung im gesamten Freistaat durch. Die milde Form der Ausgangssperre. Sport oder der Besuch des Lebenspartners waren unter anderem noch erlaubt. Irgendwann wurde die Maßnahme durch Kontaktbeschränkungen abgelöst, der Sommer lockte, Corona verflog, ein wenig.
Die zweite Welle rollte an. Wieder preschte der Freistaat vor. Gemeinsam mit Sachsen und BadenWürttemberg reagierte er Mitte Dezember nun mit einer nächtlichen, landesweiten Ausgangssperre. Länder wie Berlin, Nordrhein-Westfalen oder das Saarland schrecken davor nach wie vor zurück. Bis Mitte Februar galt sie in Bayern ab 21 Uhr. Seither ist sie nur noch in Hotspots ab 22 Uhr in Kraft – Stand Mittwoch in 59 von 71 bayerischen Landkreisen sowie in 21 von 25 kreisfreien Städten.
Eine davon: Ingolstadt. Keine zehn Minuten dauert der nächtliche Spaziergang in der Altstadt, da tauchen die weißen Lichtkegel eines grün-grauen VW-Busses auf. Die Polizeistreife macht kehrt: „Hallo, dürfen wir fragen, wieso Sie noch unterwegs sind?“Die Bestätigung der Redaktion greift. Wie ihre Arbeit denn so laufe? „Na ja. Manchmal können wir einfach nicht nachprüfen, ob die Leute einen triftigen Grund haben, draußen zu sein. Das ist oft Grauzone“, räumt der Beamte ein. Weniger Grauzone, aber Hauptaufgabe: „Wir werden oft zu Privatpartys gerufen.“
Seit Dezember hat das Ordnungsamt Ingolstadt 376 Verstöße gegen die Ausgangsbeschränkungen registriert – dazu zählen etwa auch Gruppentreffen tagsüber. Im März waren es gerade mal zehn Ordnungswidrigkeiten. In einer Stadt mit 140 000 Einwohnern. Es klingt zu schön, um wahr zu sein.
Seit über einem Jahr hat das Kopfsteinpflaster am Ingolstädter Münster keine durchzechten Nächte mehr erlebt; keinen Cuba Libre, der sich durch die Speiseröhre verselbstständigt und auf den Boden platscht; keine renitenten Rowdys vor den Klubs; keine StöckelschuhArmada. Leere Nachtbusse fahren ihre Stationen ab. So müssen sich Apokalyptiker Ingolstadt vorstellen, wenn es keine Audis mehr zu bauen gibt.
Doch in einer Seitengasse dringen Latino-Rhythmen aus dem gekippten Fenster einer Studentenwohnung. „Oue, Oue, Oueeee!“, singt einer mit. Snacktüten rascheln. LED-Lichterketten wechseln ihre Farbe. Den Stimmen nach zu urteilen treffen sich hier mehr als zwei Haushalte. Aus einer Wohnung im gleichen Komplex dringt elektronische Musik.
In einem Interview mit der Rheinischen Post forderte Karl Lauterbach Ende Oktober, die „Unverletzlichkeit der Wohnung“, verankert im Grundgesetz, dürfe kein Argument mehr für ausbleibende Kontrollen sein. Die Leute kritisierten den SPD-Gesundheitsexperten dafür scharf. Lauterbach ruderte zurück, twitterte: „Ich lehne es ab, dass Polizei oder Ordnungskräfte Wohnungen kontrollieren. Die Privatwohnung bleibt voll geschützt.“
Ruft man Lauterbach dieser Tage an, will er sich zu Privatkontrollen und Denunziantentum nicht mehr äußern. Zu heißes Eisen, sagt er und gesteht ein, dass sich die Ausgangssperre nicht vollumfassend umsetzen lasse: „Es gibt Menschen, die sind rücksichtslos und setzen sich über die Regeln hinweg. Da sind uns in gewisser Weise die Hände gebunden. Mit den Maßnahmen erreichen wir die Vernünftigen und die Willigen“, sagt er.
Lauterbach gilt als großer Befürworter der Ausgangssperre: „Sie war bei einer erfolgreichen Bekämpfung des Virus immer Teil der Maßnahmen – sowohl in Portugal, England, Irland, als auch in Teilen von Frankreich. Ohne hat es bisher noch nicht funktioniert.“
Eine vorveröffentlichte Studie der britischen Oxford-Universität hat die Corona-Maßnahmen und ihre Wirkung in 117 Regionen in sieben europäischen Ländern untersucht. Den R-Wert – also die Zahl, wie viele Menschen ein Corona-Infizierter im Schnitt ansteckt – konnte die Ausgangssperre um zehn bis 20 Prozent senken. Laut Studie ist das ein größerer Effekt als bei der Schließung von Schulen und Universitäten. Auch Untersuchungen aus Frankreich schreiben der Ausgangssperre eine Wirkung zu.
In einem offenen Brief kritisierten deutsche Aerosol-Forscher hingegen, dass eine Übertragung des Coronavirus fast ausschließlich bei Treffen in Innenräumen stattfinde, eine Ausgangssperre diese aber nicht verhindern könne. Lauterbach widerspricht: „Rechtlich stellen die Ausgangssperren nochmal stärker in den Vordergrund, dass wir uns im Privaten nicht treffen können. Somit werden auch Treffen in Innenräumen verhindert, weil auf dem Weg zu Freunden und Bekannten schon kontrolliert werden könnte.“
In Hannover, dem hessischen Main-Kinzig-Kreis und nun auch dem Märkischen Kreis in Nordrhein-Westfalen haben Gerichte zuletzt lokale Ausgangssperren gekippt. Im Februar erklärte das Verwaltungsgericht in Mannheim landesweite Ausgangssperren für unverhältnismäßig.
Eine Klagewelle könnte auch bei der bundesweiten Regelung drohen. „Damit muss man leben. Die Gerichte sind unabhängig. Die meisten Richter werden die Studienlage der internationalen Wissenschaft akzeptieren, aber ich glaube, einige wenige unterschätzen, wie stark sich die britische Mutation von der ursprünglichen Version des Virus unterscheidet“, sagt Lauterbach. „Einige Gerichte werten Erfahrungen aus der ersten Welle aus. Dort hat sich gezeigt, dass es ohne Ausgangsbeschränkung geht. Ohne die Mutante wäre das auch diesmal wieder gegangen.“
Zurück in die Nacht auf Samstag. Auf der A9 zuckeln fast nur noch Lastwagen auf der rechten Spur. Es gibt wenige Orte, an denen man jetzt, nach Mitternacht, noch auf Menschen trifft. Im Ingolstädter Norden hat der Drive-in-Schalter eines Schnellrestaurants eigentlich ein Burger-Monopol. Die Konkurrenz hat bereits geschlossen. Trotzdem erzählt der Angestellte: „Es ist sehr viel weniger los. Da kommen nur noch Leute, die von der Arbeit heimfahren, manchmal Polizisten und Taxifahrer.“
2 Uhr, Tankstelle an einer Ausfallstraße. Eine Taxifahrerin, nennen wir sie Martina Kaiser, zieht an ihrer Zigarette, da fährt eine Sportlimousine vor. Mann mit Glatze und akkurat gestutztem Bart: „Du sollst arbeiten, nicht ratschen. So verdienst du kein Geld.“Kaiser: „Schau du erst mal, dass du nach Hause kommst. Da! Polizei! Die stoppen schon einen!“Hinter ihnen düst tatsächlich eine Streife einem anderen Auto hinterher. „Ne, ich hatte noch ne Lieferung.“Er grinst, sie lacht.
Während des zweiten Lockdowns, erzählt Martina Kaiser, habe die Polizei eine Meldung auf ihr Taxi-Display geschickt. Sie solle Gäste fragen, woher sie kommen, wenn sie während der Ausgangssperre in ihr Taxi stiegen. „Das kann ich doch gar nicht kontrollieren!“, sagt sie.
Umsatzeinbußen von 80 Prozent habe sie aktuell ohnehin schon. Also fährt sie auch nach 22 Uhr noch Leute mit ihrem Taxi. „Das sind Stinknormale, die halt irgendwo bei Freunden gespielt haben. Einen habe ich heute definitiv von einer Party abgeholt. Das kann doch kein Mensch stoppen“, meint sie. Dann klingelt ihr Handy. Eine Frauenstimme fragt: „Kannst du uns abholen und zu Tobi fahren?“Martina Kaiser kann, Martina Kaiser wird. Auch wenn es verboten ist. Von der Polizei sei sie noch nie aufgehalten worden, sagt sie. Ein letzter Zug an der Zigarette, dann fährt sie los.