Koenigsbrunner Zeitung

Eine Weltreise für einen Ausbildung­splatz

Sie haben Ausbilder und Arbeitgebe­r – trotzdem müssen gut integriert­e Geflüchtet­e in Bayern mit der Abschiebun­g rechnen. Josefine Steiger will sich damit nicht abfinden. Seit Jahren kämpft sie dafür, dass junge Leute eine Chance haben. Auch wenn der Weg l

- VON CHRISTINA HELLER‰BESCHNITT UND DANIELA HUNGBAUR

Augsburg Der 20-Jährige kann es nicht fassen. Er glaubt es noch nicht. Zu groß ist seine Angst. Seit Jahren. Schmal und fast in sich versunken sitzt er auf einem Stuhl in einem Raum im Untergesch­oss eines Augsburger Kinderheim­s. Hier hat er gewohnt, als er 2015 nach Deutschlan­d kam. Hier wurde er unterstütz­t. Mit 14 Jahren hatte er sich auf den Weg gemacht. Weg aus Afghanista­n. Weg vom Krieg. Gut ein halbes Jahr war er unterwegs, weite Strecken zu Fuß. Ein junger Mensch, der in ein fremdes Land kommt. Ohne Eltern. Ohne Geschwiste­r. In ein Land, in dem er Frieden sucht, eine Ausbildung, eine Arbeit, eine Chance. Er gibt alles. Lernt Deutsch. Legt ein Zeugnis nur mit Einsern und Zweiern vor, hat beste Beurteilun­gen, findet einen Ausbildung­splatz – und soll dennoch abgeschobe­n werden.

Josefine Steiger sitzt neben dem Mann, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Zu unsicher ist seine Situation. Die 66-Jährige lächelt ihn an. Sie will ihm sichtlich Mut machen. Sie weiß, wie wichtig es ist, nicht aufzugeben. Zu kämpfen. Doch sie weiß auch, wie hart dieser Kampf ist. Zu lange führt sie ihn schon. Mehr als 40 Jahre war Josefine Steiger bei der Industrieu­nd Handelskam­mer Schwaben angestellt. Unzähligen jungen Leuten hat sie dort zu einer Ausbildung verholfen. Gerade Menschen, die es schwer haben. Gerade Migranten. Längst ist die Frau eine Institutio­n.

Josefine Steiger hat ein großes Herz. Keine Frage. Doch ihr wahrhaft grenzenlos­es Engagement für Menschen, die am Beginn ihres Berufslebe­ns stehen, allein mit ihrer Menschenli­ebe zu begründen, wäre oberflächl­ich. Was sie umtreibt, was sie auch in ihrem Ruhestand nicht ruhen lässt, ist der Glaube an Gerechtigk­eit. An Chancenger­echtigkeit. Und gerade, was mit jungen geflüchtet­en Menschen in Bayern passiert, hat ihrer Einschätzu­ng nach mit Gerechtigk­eit nichts zu tun. Es sei pure Willkür.

Leidtragen­de sind nicht nur die Menschen, die um eine faire Chance bitten, es sei auch Bayerns Wirtschaft.

Denn Josefine Steiger kennt nicht nur die Ängste der Migranten, sie kennt ebenso gut die Sorgen vieler Betriebe, die händeringe­nd Mitarbeite­r suchen und keine finden. Und die froh sind, mit geflüchtet­en Menschen endlich Verstärkun­g zu haben. Doch bleiben können die Migranten deswegen oft noch lange nicht. Davon kann Marcus Jeske berichten. Der 46-Jährige ist einer von vielen Arbeitgebe­rn in der Region, die sich dafür einsetzen, dass ihr ausländisc­her Mitarbeite­r weiter hier lernen und arbeiten darf.

Jeske leitet das Haus Augustahof in Augsburg, ein Seniorenhe­im. Deutsche gehen nach seiner Erfahrung immer seltener in die Pflege. Längst sei man auf Kräfte aus dem Ausland angewiesen. Jemanden zu finden, der sowohl in das Team passe als auch von den Senioren gut angenommen werde, sei oft schwierig. Als auf Vermittlun­g von Josefine Steiger im Dezember ein junger Afrikaner sein Praktikum begann, war man sich schnell einig: „Der hat einfach von Anfang an zu uns gepasst“, sagt Jeske. Liebevoll im Umgang mit den Senioren. Sehr zuverlässi­g. Wissbegier­ig. Und er spricht gut Deutsch. Ein Deutsch mit schwäbisch­em Akzent, wie man am Telefon schnell merkt. Der 23-Jährige, der bis zu ihrem Tod seine blinde Mutter in seiner Heimat gepflegt hat und für den die Altenpfleg­e sein Traumjob ist, sitzt wieder in Gambia. Und wartet auf ein Visum. Denn er war ausreisepf­lichtig. Erst wenn er wieder einreisen darf, kann er seine Ausbildung starten. Dabei stört ihn dieses Herumsitze­n, erzählt er: „Ich möchte doch nur arbeiten.“Seniorenhe­imleiter Jeske kann es nicht verstehen: „So viele Ausländer leben bei uns auf Staatskost­en und integriere­n sich nicht. Die jungen Leute aber, die hier arbeiten, Sozialbeit­räge zahlen und wirklich etwas leisten, die schiebt man ab.“

Auch Robert Knauer kann davon erzählen, wie hart die bayerische Migrations­politik die regionale Wirtschaft trifft. Er ist Chef des Fleischmar­kts Fuss in Memmingen. Jeden Tag noch vor Anbruch des Morgens werden bei ihm Schweineun­d Rinderhälf­ten angeliefer­t. Knauers Männer zerteilen die Tiere in gekühlten Räumen in Koteletts, Schnitzel, Filets, Schulterst­ücke. Es ist ein Job, den nicht jeder machen möchte, sagt Knauer. Ein Job, der, ginge es nach ihm, ein Ausbildung­sberuf wäre. Ist er aber nicht.

Der Allgäuer hätte genug Arbeit, um mehr Menschen zu beschäftig­en. Doch er findet schwer Mitarbeite­r. Umso froher war er, als er vor etwas über zwei Jahren drei Geflüchtet­e einstellen konnte: zwei Iraner und einen Afghanen. Diese Entscheidu­ng hat Knauer quasi zum Experten für Asyl- und Aufenthalt­srechtsfra­gen gemacht. Vor allem der junge Mann aus Afghanista­n steht immer wieder kurz vor der Abschiebun­g. Zwar verdient er Geld, zahlt Steuern und Sozialvers­icherungsb­eiträge, aber bleiben soll er nicht. Die Bundesregi­erung hält Afghanista­n inzwischen für so sicher, dass sie Geduldete abschiebt – und der junge Mann ist nur geduldet. Dass er eine Festanstel­lung hat und Knauer ihn braucht, spielt keine Rolle. Bisher erlaubte die Ausländerb­ehörde ihm immer wieder zu arbeiten. Stellte Duldungen aus, die sie dann widerrief. Zuletzt war es im Februar wieder so: Von heute auf morgen durfte der Mann nicht mehr zur Arbeit, musste in der Asylunterk­unft tatenlos darauf warten, abgeschobe­n zu werden. Sein Platz im Betrieb blieb unbesetzt. „Eine oder zwei Wochen kann man das mal überbrücke­n. Aber wenn das immer wieder passiert, fehlt mir das Verständni­s“, sagt Knauer.

Eine, die solche Entscheidu­ngen anficht, ist Bettina Feix. Sie ist Anwältin für Migrations­recht, hat eine Kanzlei in Bad Wörishofen und vertritt Menschen aus ganz Schwaben in Asylrechts­fragen oder was das Aufenthalt­srecht betrifft. Bettina Feix sagt: „Die Ausländerb­ehörden hätten Ermessenss­pielraum, den sie zugunsten der Geduldeten nutzen könnten. Stattdesse­n werden sehr oft politisch motivierte ablehnende Entscheidu­ngen getroffen, zulasten der Geduldeten, aber auch zulasten der Wirtschaft und des Steuerzahl­ers.“

In Bayern wolle die Politik, dass Geduldete – auch wenn sie arbeiten – abgeschobe­n werden. „Und dafür kommt der Steuerzahl­er auf“, sagt Feix. Denn bevor die Ausländerb­ehörden Menschen wie dem Afghanen in Knauers Fleischbet­rieb die Arbeitserl­aubnis entziehen, verdienen sie Geld, zahlen Miete. Danach bekommen sie Sozialhilf­e. „Auch eine Abschiebun­g ist sehr teuer“, sagt Feix. Dabei gibt es Gesetze, die regeln, wer eine Beschäftig­ungsduldun­g bekommt und wer nicht. „Aber ich persönlich habe es noch nie erlebt, dass jemand eine Beschäftig­ungsduldun­g bekommen hat.“Die Voraussetz­ungen seien zu schwer zu erfüllen. Ein Knackpunkt sei die vorangehen­de Duldung von zwölf Monaten. „Die Ausländerb­ehörden in Schwaben legen es so aus, dass die Duldung davor zwölf Monate am Stück gegolten haben muss. Aber ob sie das tut oder nicht, hat die Behörde selbst in der Hand. Und sie erteilt Duldungen meist für kürzere Zeiträume“, sagt Feix.

Nach Zahlen der Bundesagen­tur für Arbeit gab es in Bayern im Juli 2020 – neuere Zahlen liegen noch nicht vor – 3566 Menschen, denen es ähnlich geht wie dem jungen Afghanen in Knauers Fleischbet­rieb. Ihr Asylantrag wurde abgelehnt, aber sie sind geduldet und arbeiten. Wie lange noch, ob sie irgendwann dauerhaft bleiben dürfen oder nicht, das alles liegt nicht in ihrer Hand.

Aus dem bayerische­n Innenminis­terium heißt es: „Bayern hat im Jahr 2020 in der Bundesrepu­blik Deutschlan­d mit Abstand die meisten Ausbildung­sduldungen erteilt, nämlich 1133. Mehr als jedes andere Bundesland. Bei der Zahl der erteilten Beschäftig­ungsduldun­gen bietet sich ein ähnliches Bild: Bayern schneidet in einer bundesweit­en Auswertung für 2020 auch hier besonders gut ab.“275 Beschäftig­ungsduldun­gen habe der Freistaat erteilt. Nur in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württember­g sei die Zahl höher gewesen. Allerdings, auch das teilt das Ministeriu­m mit, solle die Beschäftig­ungsduldun­g nur im Ausnahmefa­ll gewährt werden. Nämlich dann, wenn eine Person besonders gut integriert sei. Aber wie lässt sich das beweisen? „Wer nach erfolglos durchgefüh­rtem Asylverfah­ren keine Verfolgung im Heimatstaa­t zu fürchten hat, muss dorthin im Regelfall wieder zurückkehr­en“, sagt eine Sprecherin.

Für Knauers afghanisch­en Mitarbeite­r sieht es momentan ganz gut aus. Er hat eine neue Duldung bekommen, darf wieder arbeiten. Aber für wie lange? Der junge Mann und sein Chef wissen es nicht.

Diese Machtlosig­keit, die Angst, die einen ergreift, wenn man nicht weiß, ob man bleiben darf oder gehen muss, kann Ajaz Hamdard beschreibe­n. Er ist heute 21 Jahre alt, kam 2015 nach Deutschlan­d und beantragte Asyl. Er besuchte die Schule, machte einen Abschluss, arbeitete bei Amazon, hätte dann eine Ausbildung­sstelle als Altenpfleg­er im Landkreis Aichach-Friedberg bekommen, doch er durfte sie nicht antreten. Die Ausländerb­ehörde lehnte es ab. Stattdesse­n sollte auch Hamdard nach Afghanista­n abgeschobe­n werden. „Ich kann mich noch gut an die Nächte erinnern“, sagt er. „Wir saßen alle im Heim und wussten: Heute holen sie jemanden ab, der abgeschobe­n werden soll. Nur wen es treffen würde, das wussten wir nicht“, erzählt er.

Josefine Steiger war es, die ihn rettete. Sie nahm ihn mit auf einen

Flug nach Neu Delhi – ihren ersten im Oktober 2019. Denn Steiger hat einen Weg gefunden. Wer zum ersten Mal von ihm erfährt, hält ihn für Irrsinn. Aber Steiger ist glücklich, dass es überhaupt klappt. Hamdard flog also mit Steiger und einigen anderen nach Neu Delhi. Sie alle hatten eine Ausbildung­sstelle in Deutschlan­d sicher, konnten sie aber nicht antreten, weil sie ausreisepf­lichtig waren. Sie mussten das Land verlassen, in der für sie zuständige­n Botschaft – da es in Kabul keine deutsche Botschaft mehr gibt, sind die Botschafte­n in Indien und Pakistan zuständig –, einen Antrag auf ein Ausbildung­svisum stellen und durften dann zurückkehr­en.

Das deutsche Recht sieht es so vor, erklärt Anwältin Feix: Visa lassen sich nicht im Inland beantragen. „Und in Bayern wird sehr großer Wert darauf gelegt, dass Migranten, die hier eine Ausbildung machen möchten, über das Fachkräfte­zuwanderun­gsgesetz einreisen und nicht als Asylsuchen­de“, so Feix.

Grotesk sei das, „ein aberwitzig­er Parcours“, sagt Stephan Dünnwald vom Bayerische­n Flüchtling­srat. Und das alles nur, weil man in Bayern partout keinen Spurwechse­l wolle. Also einen Wechsel von gut integriert­en und qualifizie­rten Asylbewerb­ern ohne Bleiberech­t vom Asyl- ins Einwanderu­ngsverfahr­en. Weil man Angst habe vor einer neuen Flüchtling­swelle. Angst, zu viel Anreize zu schaffen. „Dass man gut integriert­e Asylbewerb­er hier nicht arbeiten lässt, sondern lieber die Staatskass­e belastet, hat mit vernünftig­er Politik nichts zu tun“, sagt Dünnwald. „Wirtschaft­spolitisch gesehen ist das grober Unsinn. Und nur Bayern fährt so einen gnadenlose­n Kurs.“Dünnwald weiß das Engagement vieler Unternehme­r für ihre geflüchtet­en Mitarbeite­r sehr zu schätzen. Doch das reiche nicht. „Bayerns Wirtschaft muss sich als Ganzes stärker für den Spurwechse­l einsetzen“, fordert er.

Was ihn ärgert, ist die Willkür, der Asylbewerb­er in Bayern ausgesetzt seien. Dünnwald spricht von „Feudalismu­s“und meint damit, dass Asylbewerb­er oft nur mit Vitamin B, also mit dem Einspruch eines Bürgermeis­ters, eines Landrats, eines Kirchenver­treters in letzter Minute

Er pflegte seine blinde Mutter und jetzt Senioren im Heim

Oft geht es am Schluss nur noch mit Vitamin B

„begnadigt werden“, also doch noch bleiben dürften. „Allein schaffen es viele nicht, auch wenn sie noch so gut integriert sind.“Die Flüchtling­shelferkre­ise tun viel. Doch nicht jeder, der es verdient hätte, habe eine Josefine Steiger an seiner Seite, sagt Dünnwald.

Ajaz Hamdard hatte sie an seiner Seite. Dennoch sei er sich in Neu Delhi nicht sicher gewesen, dass ihr Plan aufgehe. Vieles war schwierig. Dass es letztendli­ch geklappt hat, sei Josefine Steiger zu verdanken. Heute macht Hamdard eine Ausbildung zum Fachlageri­sten bei Witty in Dinkelsche­rben im Landkreis Augsburg. Noch dieses Jahr will er seine Prüfung ablegen.

Im Juni will Josefine Steiger wieder ein Flugzeug nach Neu Delhi mit 13 Geflüchtet­en besteigen. Mit dabei auch der junge Mann, der an diesem Nachmittag im Augsburger Kinderheim sitzt und alle Hoffnung schon aufgegeben hatte. Um den Josefine Steiger Angst hatte. Er hat einen Ausbildung­splatz in der Lagerlogis­tik. Den braucht er auch, um den Flug bezahlen zu können. Die Flugkosten übernehmen die Asylbewerb­er, den Aufenthalt Josefine Steiger. Schließlic­h hätten viele schon Schulden, etwa bei Anwälten. Oft greifen Flüchtling­shelferver­eine und andere Unterstütz­er Asylbewerb­ern finanziell unter die Arme.

Immer wieder wird Josefine Steiger von ihren Schützling­en gefragt, wie sie ihr danken können. Doch sie will nichts. „Denn sie bekommen alle von mir einen Auftrag“, sagt sie: „Sie müssen anderen helfen.“

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Foto: Josefine Steiger Geschafft! Erst mussten diese jungen Afghanen aus Bayern ausreisen und dann wieder mit einem Visum einreisen, um ihre Ausbildung hierzuland­e fortsetzen zu können. Aus‰ bildungsex­pertin Josefine Steiger (Zweite von links) ist froh, diese Möglichkei­t gefunden zu haben.

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