Koenigsbrunner Zeitung

„Es geht nicht um Shoppen, sondern um Menschenle­ben“

Das Tübinger Modellproj­ekt steht nicht nur in der Kritik, sondern womöglich vor dem Aus, obwohl die Corona-Inzidenz in der Universitä­tsstadt weiterhin niedrig ist. Warum Vordenkeri­n Lisa Federle die Strategie mit vielen Tests dennoch für richtig hält

-

Frau Federle, was ist Ihre Meinung zu den Neuerungen beim Infektions­schutzgese­tz?

Lisa Federle: Das ist sehr schade. Mit der bundesweit­en Notbremse wären Modellproj­ekte wie in Tübingen nicht mehr möglich. Ich hoffe, dass da noch eine Ausnahmere­gelung ins Gesetz kommt. Ich bin ja auch CDU-Mitglied und versuche, aufs Parteipräs­idium einzuwirke­n.

In der Stadt Tübingen wird überprüft, ob man mit intensiver­en Tests mehr Freiheiten ermögliche­n kann. Nachdem die Inzidenzen lange niedrig waren, sind sie zuletzt gestiegen. In der Folge steht das Projekt in der Kritik. Federle: Die Inzidenz im Kreis Tübingen lag zuletzt bei 147. Das Modellproj­ekt Tübingen bezieht sich aber nur auf die Stadt. Hier gab es in den vergangene­n sieben Tagen 84 Infektione­n pro 100000 Einwohner (Stand 15. 4.). Das ist weit unter dem Baden-Württember­g-Wert von 170. Zudem wird das Projekt von Ökonomen und Epidemiolo­gen der Universitä­t Tübingen mit einer Studie begleitet, an der ich auch mitarbeite. Wir werden empfehlen, das Projekt weiter durchzuzie­hen. Es sieht ganz danach aus, als ob das viele Testen die Inzidenz so niedrig gehalten hat.

Als Laie würde man eher denken, dass die Inzidenz eher hochgeht, je mehr man testet.

Federle: Wenn man mehr testet, findet man anfangs auch mehr Fälle und bekommt höhere Zahlen in der Statistik. Auf lange Sicht sinkt die Inzidenz aber wieder. Das belegen die Zwischener­gebnisse unserer Studie. Bei uns ging die Inzidenz anfangs auch hoch. Trotzdem ist Tübingen als erster Landkreis in Baden-Württember­g unter eine Inzidenz von 35 gekommen. Durch unser intensives Testen haben wir hunderte Infizierte entdeckt und unter Quarantäne gestellt, die sich sonst nie hätten testen lassen, und so die Ansteckung­srate gesenkt. Auch unsere Intensivst­ationen sind noch lange nicht an der Kapazitäts­grenze. Es geht mir nicht ums Shoppen, sondern um Menschenle­ben.

Experten wie Karl Lauterbach und Christian Drosten haben zuletzt die Wirksamkei­t von Schnell- und Selbsttest­s kritisiert.

Federle: Natürlich sind die Tests nicht zu 100 Prozent sicher. Es muss jedem klar sein, dass ein solcher Test kein Freifahrts­chein ist. Man muss sich trotzdem an die Vorschrift­en halten. Dennoch sind die Tests sicherer, als wenn man einfach nur nach Symptomen geht oder weniger testet.

Hier in Bayern haben sich auch viele Städte als Tübinger Modellproj­ekte beworben. Das würde ihnen mehr Öffnungen ermögliche­n. Welche Voraussetz­ungen müssten Gemeinden erfüllen, um so etwas verantwort­ungsvoll auszuprobi­eren?

Federle: Wenn die Infektions­zahlen wie jetzt steigen, dann ist das ein schlechter Zeitpunkt, um damit anzufangen. Man muss dafür sehr gut vorbereite­t sein. Mit der Vorbereitu­ng kann man aber jetzt schon anfangen. Wenn Sie die Inzidenzen einigermaß­en im Griff haben, eine Kontaktver­folgungs-App und ausreichen­de Teststatio­nen haben, könnten viele Städte so vorgehen wie in Tübingen. Auch die Aufgeklärt­heit spielt eine Rolle. In Tübingen sind wir mit dem Thema seit

Monaten beschäftig­t. Ich habe Kitas, Schulen und Betriebe eingelernt, wie man den Test benutzt. Wenn so etwas klar ist, kann ich ganz anders agieren.

Was halten Sie davon, dass auch Flächenlän­der wie zum Beispiel das Saarland solche Modellproj­ekte starten? Federle: Das Ganze mit größeren Regionen zu versuchen, halte ich nicht für verkehrt. Unser Problem in Tübingen war, dass die Leute aus der ganzen Region bei uns zum Stadtbumme­l vorbeigeko­mmen sind, weil bei ihnen alles zu war. Das hat zu steigenden Inzidenzen geführt. Wenn die Nachbarstä­dte auch mitmachten, würde das nicht passieren.

Wäre das Tübinger Konzept eine Alternativ­e zum Lockdown?

Federle: Die Leute treffen sich auf jeden Fall, auch wenn sie eigentlich vernünftig sind. Man kann das nicht über das ganze Jahr verbieten. Das funktionie­rt nicht. Die Frage ist also, wie man das verantwort­ungsvoll hinbekommt. Im Freien ist das Ansteckung­srisiko zum Beispiel deutlich geringer. Draußen und getestet einen Kaffee zu trinken, ist sehr viel sicherer, als sich drinnen zu treffen. Gegen eine Öffnung der Außengastr­onomie würde aus meiner Sicht nichts sprechen.

Was würden Sie anders machen, wenn Sie über die Corona-Politik bestimmen könnten?

Federle: Ich würde so schnell wie möglich eine Testpflich­t für Schulen, Kitas und Unternehme­n anordnen. So würde sichergest­ellt, dass fast alle regelmäßig getestet werden. Das ist der einzige Weg, um Corona in den Griff zu kriegen. Dafür muss man ja nicht auf ein Gesetz warten.

Um sich regelmäßig zu testen, muss man ja nicht auf ein Gesetz warten. Wie oft würden Sie empfehlen, dass ein Normalbürg­er sich testet?

Federle: Mindestens zwei bis- dreimal pro Woche. Das muss gehen wie das Zähneputze­n.

Lisa Federle, 59, ist Notärz‰ tin und Präsidenti­n des Roten Kreuzes Tübingen. Sie gilt als Vordenkeri­n des „Tübinger Wegs“mit offensi‰ ver Corona‰Teststrate­gie.

 ??  ??
 ?? Foto: dpa ?? Nach einem negativen Corona‰Test ste‰ hen den Menschen in Tübingen viele Tü‰ ren offen.
Foto: dpa Nach einem negativen Corona‰Test ste‰ hen den Menschen in Tübingen viele Tü‰ ren offen.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany