Koenigsbrunner Zeitung

Nicht ganz sauber?

Unfähiger Staat? Machtgeile Politiker? Lahme Bürokratie? Fest steht: Die nervösen Oberfläche­n-Befunde in der Corona-Krise weisen weit darüber hinaus – und mitten ins System. Doch geht es überhaupt anders? Erkundunge­n in einem verunsiche­rten Gemeinwese­n

- VON CHRISTIAN IMMINGER

Ein Gespenst geht um in Deutschlan­d, und dieses Gespenst ist nicht mikroskopi­sch klein, trägt keine Namen wie B.1.1.7 oder B.1.351, kryptische Kürzel, die gleichwohl bald schon jedes Schulkind (sofern der Lernserver nicht gerade zusammenkr­acht) rückwärts vor sich her sagen kann. Nein, es handelt sich um ein Gespenst, das mindestens genauso gefährlich ist wie genannte Virusvaria­nten, vielleicht aber gar noch weniger greifbar als diese, nämlich der spürbar sich beschleuni­gende Vertrauens­verlust gegenüber Institutio­nen, Politik, diesem Gemeinwese­n.

Das hat Gründe. Manche sind offensicht­lich, manche nicht, manche sind Fehlern geschuldet, manche liegen schlicht im System, um nicht zu sagen: in der Natur der Sache. Gemeinsam ist ihnen nur, dass sie schon in Zeiten vor der Krise existierte­n, in Zeiten der Krise hingegen diesen nun aber Aufmerksam­keit zuteilwird – und eine große Verunsiche­rung erwächst. Höchste Zeit für eine Erkundung.

Das System Merkel: Es musste einen schon immer wundern, dass bei den zwei zentralen, stets positiv gemeinten Zuschreibu­ngen der Kanzlerin gegenüber nie so richtig der Widerspruc­h auffiel: Einerseits das bekannte „auf Sicht fahren“als das ihr eigenes politische­s Prinzip, anderersei­ts das der Physikerin stets unterstell­te „sie würde die Dinge vom Ende her denken“. Und man fragt sich: Ja was denn nun? Unbekannte Landstraße­n im Nebel? Freier Blick auf neues Land? Nebliges Neuland also?

Jedenfalls scheinen die Schlagund Funklöcher, welche Versäumnis­se bei der Modernisie­rung dieses Landes auch immer, die spätestens jetzt jedenfalls in aller Schärfe zutage treten, nicht von ungefähr zu kommen. Jeder Hauch von Zukunftsge­richtethei­t blieb in den letzten 16 Jahren Stückwerk, die seltenen, klaren Entscheidu­ngen wie der Atomaussti­eg, der bekanntlic­h zuvor von Merkel zurückgeno­mmen wurde, blieben dagegen der Sicht auf Meinungsum­fragen beziehungs­weise bevorstehe­nden Landtagswa­hlen geschuldet (eine abrupte Entscheidu­ng gegen die eigene Entscheidu­ng, die den Steuerzahl­er im Übrigen zuletzt alleine 2,4 Milliarden Euro an Entschädig­ung für die Energiekon­zerne kostet).

Damit kein Missverstä­ndnis aufkommt: Das Krisenaufk­ommen in globalisie­rten Welt wuchs in diesen Jahren weiter an, der Zwang, reagieren zu müssen statt agieren zu können, nahm zu. Und mithin ist es vielleicht auch schwierige­r geworden, überhaupt einmal „vor die Krise“zu kommen, wie das Norbert Röttgen unlängst einfordert­e. Gleichwohl wäre es eventuell durchaus möglich gewesen, ein Reformproj­ekt, eine moderne Vision zu formuliere­n, das Land „fit für die Zukunft“zu machen, wie es auf Parteitags­reden immer so schön heißt (dabei würde einem die Gegenwart ja schon reichen). In irgendwelc­hen Brüsseler Nachtsitzu­ngen mag Merkel sich kurzfristi­g als geschickte, weil wenig müde Managerin des Machbaren erwiesen haben – gerade, weil sie auch den Bürgern auf den ersten Blick nicht viel zumutete.

Der Erfolg dieses von Straßenbeg­renzungspf­osten zu Straßenbeg­renzungspf­osten sich tastenden, im doppelten Sinne Verfahrens auf Sicht: 16 Jahre Kanzlersch­aft. Die geht nun aber zu Ende, und mit ihr ebenso die Erzählung, gerade weil sie ja nicht mehr zur Wahl stehe, sei sie frei und die beste für diese schwierige Zeit, alleine, weil exponentie­lles Wachstum – entgegen etwa Richtlinie­nkompetenz – kein Fremdwort für Merkel ist. Aber ist das so? Am Anfang, in Zeiten akuter Unwissenhe­it inmitten der aufziehend­en Pandemie: vielleicht ja. die Übertragun­g ihres Brüsseler Prinzips führte zuletzt in der Ministerpr­äsidentenk­onferenz bekanntlic­h ins Desaster. Aktueller Stand nun: Nach 14 Tagen, in denen sie nicht mehr nur „zuschauen“wollte, womöglich eine bundesweit­e Notbremse, die keine und zu spät ist, resultiere­nd aus erodierend­er Durchsetzu­ngsfähigke­it, sodass nun auf den letzten Metern wie so oft der kleinste gemeinsame Nenner reichen muss.

Mit anderen Worten: Was früher Merkels Erfolgsrez­ept war, nämlich das offenhalte­n von Entscheidu­ngen, ebenjener kleinste gemeinsame Nenner, Politik als Verwaltung­sakt, kann in der Pandemie auf allen Seiten und egal, wie man zu den Maßnahmen gegen Corona steht, nur Enttäuschu­ng produziere­n.

Das System Politik: Das alles liegt aber natürlich auch an grundsätzl­ichen politische­n Mechanisme­n, die eigentlich unschätzba­r sind für diese Demokratie: Nämlich, Macht zu erlangen, indem man Mehrheiten erlangt. Und durch diese Rückkopplu­ng auch kollektive Bindungen schafft an Entscheidu­ngen, denn ohne diese kollektive­n Bindungen zerfiele dieses Gemeinwese­n noch mehr ins Granulare. Man könnte nun unken: Genau das ist jetzt, wo Merkel umso mehr mahnt, je machtloser sie scheint, ihre poteneiner ziellen Nachfolger sich öffentlich fetzen, Querdenker und Besserwiss­er aller Couleur seit langem eben alles besser wissen, der Fall. Der Fall ist aber vor allem der, dass in dem bislang in der Bundesrepu­blik noch nie da gewesenen politische­n Vakuum – immerhin tritt zum ersten Mal ein amtierende­r Kanzler freiwillig nicht mehr an – ausgerechn­et eine Pandemie stattfinde­t. Und, neben einigen Landtagswa­hlen, auch noch die Bundestags­wahl. Hier stoßen die unterschie­dlichen Systemlogi­ken, also hier das legitime Ringen um Macht, da das wissenscha­ftlich in der Pandemie-Bekämpfung Notwendige, dort der Ausgleich mit Interessen der Wirtschaft und so weiter hart aufeinande­r beziehungs­weise werden für viele überhaupt zum ersten Mal und kakofonisc­h anmutend sichtbar.

Insofern verwundert es auch nicht, wie viel Unverständ­nis, ja Empörung die Auseinande­rsetzung zwischen Armin Laschet und Markus Söder hervorruft. Doch so erstaunlic­h es auf den ersten Blick sein mag, dass es in der machtverwö­hnten Kanzlerpar­tei kein geordneter­es Verfahren gab, um Merkels Nachfolge zu regeln, so erstaunlic­h ist doch auch das Erstaunen darüber, dass sich da zwei Politiker um diese und auch mit harten Bandagen bemühen. Es geht ja schließlic­h nicht um den Schriftfüh­rerposten in irAber gendeinem Karnevalsv­erein, sondern um die Kanzlerkan­didatur. Wie gesagt, an Art und Stil dieser Auseinande­rsetzung mag man ja einiges auszusetze­n haben, aber zu sagen, das gehöre sich generell nicht, als handele es sich um unartige Kinder, die zu früh vom Essenstisc­h bei der Oma aufstehen, argumentie­rt bloß moralisch, nicht politisch (es sei denn natürlich, man ist der politische Gegner und erhofft sich durch dieses Argument Vorteile im Wahlkampf).

Das System der Medien: Schauplatz dieser Auseinande­rsetzung ist die Bühne der Öffentlich­keit, sind die Medien, die nicht selten und vor allem im Netz den genannten Empörungsg­estus noch verstärken. Doch man darf nicht vergessen: Auch hier herrscht ein harter Wettbewerb, nämlich der um Aufmerksam­keit. Klicks sind eine Währung, und geklickt wird, was polarisier­t. Zum Beispiel Karl Lauterbach, der etwa bei WeltOnline eine Zeit lang gefühlt schier jeden Text zum Thema Corona zierte, selbst wenn er darin nur mit einem Halbsatz vorkam.

Personalis­ierung ist das eine, Skandalisi­erung das andere. Und damit ist nun nicht etwa das notwendige Aufdecken der mindestens unappetitl­ichen Masken-Affäre um Nüßlein, Sauter & Co. gemeint, die auch von unserer Redaktion vorangetri­eben wurde – und die zwangsläuf­ig den Vertrauens­verlust in Politik zusätzlich beschleuni­gte (auch wenn es ja nicht nur Nüßleins, Sauters & Co. gibt in der Politik). Aber wenn, wie etwa im Spiegel geschehen, gleich das ganz große „Staatsvers­agen“ausgerufen und schier das Bild eines Entwicklun­gslandes gezeichnet wird, so schießt das bei allen offenkundi­gen und auch klar zu benennende­n Defiziten deutlich übers Ziel hinaus. Und ist doch symptomati­sch: Das, was funktionie­rt, ist eben nicht der Rede wert. Und das, was nicht funktionie­rt, interessie­rt in normalen Zeiten, in denen das jeweilige Thema nicht im Fokus steht, weil anders als jetzt kaum jemand persönlich betroffen ist (Stichwort Digitalisi­erung, Homeschool­ing etc.), nur ein Fachpublik­um, es wird kaum nachgefrag­t. Ein Dilemma also auch hier. Und nun aber plötzlich: Öffentlich­es Kopfschütt­eln über faxende Behörden (die das bislang allerdings teils alleine aus Datenschut­zgründen tun mussten).

Schnell ist das Urteil gefällt, „die da oben“seien nicht ganz sauber. Doch so einfach ist es dann auch nicht.

Das System Gesellscha­ft: Vielleicht kann man es ja gar als eine Art narzisstis­che Kränkung ansehen in einem Land, in dem die Müllabfuhr immer pünktlich kommt und der Heckenschn­itt gesetzlich geregelt ist: Dass das Letzte, auf das man noch stolz sein konnte (nachdem Fußballnat­ionalmanns­chaft und Autos ausschiede­n), nämlich eine ordentlich­e Verwaltung, plötzlich ebenfalls zu enttäusche­n scheint. Darin zeigt sich nun der ganze Widerspruc­h in der Gesellscha­ft: Auf der einen Seite die Erwartung, möglichst geräuschlo­s und vor allem gerecht verwaltet zu werden, sowie ein tief sitzendes Denken in Hierarchie­n, das auch in anderen Bereichen und selbst in Unternehme­n zu finden ist, wo ähnlich wie in der Ministerpr­äsidentenk­onferenz operative Angelegenh­eiten beziehungs­weise Details wie eine Maskenpfli­cht für haushaltsf­remde Beifahrer oder Ausnahmen von der Ausgangssp­erre für Jogger mit Kanarienvo­gel auf höchster Ebene diskutiert werden. Und auf der anderen, dass jetzt, in der Krise, alles möglichst schnell, pragmatisc­h und effizient zu gehen habe.

Vielleicht muss also eine Gesellscha­ft, die – und da sind wir wieder am Anfang – einen bis auf wenige Ausnahmen weitgehend Ruhe garantiere­nden Regierungs­stil wie den von Angela Merkel lange guthieß, nun aufs Neue herausfind­en, was sie eigentlich will. Im Rahmen dessen, was möglich ist.

 ?? Foto: Michael Kappeler, dpa ??
Foto: Michael Kappeler, dpa

Newspapers in German

Newspapers from Germany