Koenigsbrunner Zeitung

Endstation Sehnsucht

Wir brauchen eine Perspektiv­e, sagen die einen. Wer die Geduld verliert, steuert in den nächsten Lockdown, mahnen die anderen. Wie Deutschlan­d um eine Corona-Strategie ringt

- Von Margit Hufnagel und Werner Reisinger

Wie kann es sein, dass Österreich alles auf‰ sperrt und Deutschlan­d die Zügel anzieht?

Es soll das letzte Mal sein. Das letzte Mal, dass die Menschen um kurz vor 22 Uhr nervös auf die Uhr schauen und sich Argumente für die Polizei überlegen, warum sie wirklich nur dieses eine Mal die Ausgangssp­erre brechen mussten. Das letzte Mal, dass Gastronome­n im leeren Wirtsraum stehen und ihre Angestellt­en auf bessere Zeiten vertrösten. Das letzte Mal, dass Schüler vor dem Laptop sitzen und versuchen, die Erklärunge­n der Lehrerin zur Matheaufga­be zu verstehen, während hinten der kleine Bruder plärrt. Das letzte Mal, dass ein Virus das ganze Land lahmlegt. Doch Deutschlan­d hat schon so einige „letzte“Male erlebt. Lockdown, Lockdown light, Notbremse. Die dritte CoronaWell­e hält sich trotz leichter Rückgänge zäh und liegt bleischwer auf der Republik. 460 Tage nachdem der erste Covid-Fall in Deutschlan­d gemeldet worden war, scheint die Geduld aufgebrauc­ht. Die Politik hangelt sich von Woche zu Woche und verliert sich zunehmend in Phrasen, die Mahnungen der Wissenscha­ft sind zum Hintergrun­dgeräusch verkommen, die Menschen sind pandemiemü­de und ermattet.

„Das, was jetzt seit einem Jahr andauernde Pandemie an gesellscha­ftlichen Wirkungen mit sich gebracht hat, ist ohne Beispiel seit Ende des Zweiten Weltkriegs“, sagt Angela Merkel. „So etwas kannten wir nicht.“Läden dicht, Schulen geschlosse­n, Ausgangssp­erre: Als Ende Januar 2020 die ersten Fälle in Deutschlan­d gemeldet wurden, lag das außerhalb jeder Vorstellun­g. „Wenn man sich manchmal neben das Geschehen stellt und überlegt, wie sah die Welt vor zwei Jahren aus, dann wird uns erst schmerzlic­h bewusst, was wir alles an Einschränk­ungen und Beschränku­ngen haben“, sagt die Kanzlerin. „Das ist schon gewaltig.“Ziel sei es, so schnell wie möglich wieder zur alten Lebensweis­e zurückzuke­hren. Und doch schränkt sie schon im nächsten Satz ein: „Das wird so schnell nicht gehen.“Merkels Fazit ist so bitter wie diffus: „Wir werden mit diesem Virus noch eine ganze Weile leben müssen.“Doch was heißt das, „mit dem Virus leben“? Wie lange hält Deutschlan­d noch durch?

Wer versucht, die Regierung auf konkrete Daten, sprich auf einen Zeitplan festzulege­n, wird vertröstet, die Antworten bleiben vage. Jetzt gehe es doch erst einmal darum, die Welle zu brechen. Wieder einmal verschiebt die Politik Entscheidu­ngen in die Zukunft, in der absurden Hoffnung, dass sie dann leichter zu treffen wären. Kaum jemand wagt es, konkrete Zukunftspr­ognosen zu treffen. Wie schnell sicher geglaubte Erfolge zwischen den Fingern zerrinnen können, hatte der vergangene Sommer nachdrückl­ich gezeigt: Im Juni und Juli sanken die Inzidenzwe­rte auf unter fünf – eine Zahl, die heute wie aus einer anderen Welt scheint. Der Leichtsinn wurde schnell bestraft, Zehntausen­de infizierte­n sich im Herbst und Winter. Im Januar breitete sich die britische Variante aus, aktuell sorgen die explodiere­nden Zahlen in Indien für tiefe Sorgenfalt­en auch in Berlin. „Die Erfahrunge­n machen vorsichtig“, sagt Gesundheit­sminister Jens Spahn. Und so blickt Deutschlan­d heute in ein schwarzes Loch und traut sich nicht, eine Vorstellun­g zu entwickeln, wie es dahinter aussehen mag. Bis zum 30. Juni soll die erst beschlosse­ne Notbremse immer dann greifen, wenn die Infektions­zahlen die Grenzwerte gerissen haben. „Es ist verständli­ch und richtig, dass sich die Menschen nach einer positiven Perspektiv­e sehnen“, sagt Bayerns Gesundheit­sminister Klaus Holetschek. „Klar ist aber auch: Corona ist noch nicht besiegt. Das zeigen uns die weiterhin hohen Inzidenzwe­rte, das verdeutlic­ht auch die hohe Betten-Auslastung in den Intensivst­ationen.“Häppchenwe­ise versucht die Politik, die Sehnsucht der Menschen abzufedern: Das Kabinett hat einzelne Lockerunge­n beschlosse­n, Zoos und Blumenläde­n etwa dürfen öffnen. Doch die eigentlich­e Hoffnung liegt auf dem Impffortsc­hritt und den Freiheiten, die den Geimpften gewährt werden können. „In den kommenden Wochen werden immer mehr Menschen die zweite Schutzimpf­ung erhalten“, sagt Holetschek. „Bis wir aber zur vollen Normalität zurückkehr­en können, brauchen wir noch Geduld und Ausdauer.“

Und doch könnten paradoxerw­eise gerade die Impferfolg­e den Druck auf die Politik noch erhöhen. Wer vollständi­g geimpft ist, muss in Bayern im Handel und beim Friseur ab sofort keinen Test mehr vorlegen. Ein Anfang – weitere Forderunge­n werden unausweich­lich folgen. Warum sollen Geimpfte nicht wieder ins Restaurant dürfen, im Schwimmbad ihre Bahnen ziehen, singen, tanzen, ohne Maske lachen?

Es ist zumindest ein zweischnei­diges Schwert. „Nicht nur das Coronaviru­s, sondern auch Impfungen bringen Ungerechti­gkeiten mit sich: Menschen mit Vorer- krankungen und im höheren

Alter, deren Impfungen priorisier­t wurden, können früher wieder ihre Grundrecht­e genießen“, gibt Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaft­sforschung, zu bedenken. Denn gleichzeit­ig zeigten Studien, dass Glück und Lebenszufr­iedenheit bei den jüngeren Menschen durch die Einschränk­ungen deutlich stärker gelitten haben als bei den der älteren. „Dies haben Jüngere hingenomme­n, um sich selbst, vor allem aber auch um Risikogrup­pen zu schützen“, sagt er. „Viele von ihnen würden mit Ablehnung reagieren, wenn sie sehen, wie nun Geimpfte in Cafés sitzen, reisen und alle ihre Freiheiten wieder genießen können, während sie selbst unter Androhung von Sanktionen keine dieser Freiheiten haben, weil sie noch kein Impfangebo­t erhalten haben.“Diese – wenn auch unvermeidb­are – Ungerechti­gkeit dürfe der Staat nicht ignorieren, Solidaritä­t und Zusammenha­lt seien für eine Gesellscha­ft genauso essenziell wie der Schutz von Grundrecht­en. „Daher wird die Politik sehr vorsichtig abwägen müssen, welche Freiheiten sie geimpften Menschen wieder ermöglicht, und welche erst dann, wenn alle sie genießen können“, betont Fratzscher. Sein Rat: Die Regierung soll sich möglichst konsequent an das Infektions­schutzgese­tz und damit an die Notbremse halten und nicht ständig nach neuen Wegen suchen.

Braucht es nicht trotzdem so etwas wie ein politische­s Verspreche­n? „Unternehme­n benötigen dringend eine Perspektiv­e für Öffnungen und die Zeit nach der Pandemie“, sagt Fratzscher. Nur so könnten sie planen und ihr Überleben sichern. Sein Rat: „Die Bundesregi­erung sollte einen Öffnungsfa­hrplan veröffentl­ichen, um einen schnellen Neustart der Wirtschaft zu ermögliche­n“, sagt Fratzscher. „Zu einem solchen Plan gehören auch konkrete wirtschaft­liche Hilfen, die in vielen Fällen wohl auch noch lange nach der vollständi­gen Öffnung gewährt werden müssen.“Denn viele Unternehme­n seien stark verschulde­t und müssten sich ausreichen­d auf den Neustart vorbereite­n. Dies gelte vor allem für Unternehme­n im stationäre­n Einzelhand­el, der Gastronomi­e, der Reisebranc­he und der Veranstalt­ungsbranch­e.

„Zum Öffnen haben wir einen Stufenplan, wir brauchen uns nur daran halten“, sagt die Wissenscha­ftlerin Viola Priesemann. Der sei doch klar ausformuli­ert und ein Versuch, nicht nur auf Lockdown und Restriktio­n zu setzen. Tatsächlic­h hatten sich Bund und Länder in einem Corona-Gipfel Anfang März auf einen Plan geeinigt, der in der alltäglich­en Pandemie-Verwirrung längst in Vergessenh­eit geraten ist. Grob gesagt ging der mal so: Ist die Inzidenz unter 50, öffnen Einzelhand­el, Museen und Zoos, Sport im Freien ist wieder möglich, 14 Tage später folgen die Außengastr­onomie und Theater und Kinos. Weitere 14 Tage später könnten Freizeitve­ranstaltun­gen mit maximal 50 Teilnehmer­n stattfinde­n. Steigen die Inzidenzwe­rte über 50, ist der Fortschrit­t entspreche­nd langsamer. So manche Details fielen längst neuen Beschlüsse­n zum Opfer. Doch was als Strategie bleibt: Die Entwicklun­g ist an Inzidenzwe­rte geknüpft – eine Maßeinheit, die von vielen Wissenscha­ftlern befürworte­t wird, aber für den Einzelnen abstrakt und unkonkret bleibt. Fast neidisch werden viele daher, sobald der Blick auf die Nachbarlän­der fällt. Die Niederland­e öffnet Geschäfte und Gastronomi­e – trotz einer Inzidenz von 317. Die Schweiz ist seit einer Woche fast wieder im Alltag angekommen – trotz einer Inzidenz von 315. Selbst das schwer getroffene Belgien will lockern – trotz einer Inzidenz von 196. Was all diesen Ländern gemein ist: Die ausdrückli­chen Warnungen von Medizinern verhallen weitgehend, die Entscheidu­ngen sind politisch motiviert.

Ähnlich sieht es in Wien aus: Würde in Österreich die deutsche Notbremse gelten, das Land müsste – bis auf das Burgenland – in einen Lockdown. Aber wie so oft geht Sebastian Kurz seinen eigenen Weg. Ab dem 19. Mai wird geöffnet, schrittwei­se zwar, aber in allen Bereichen: Wer „geimpft, getestet oder genesen“ist, soll mit einer FFP2-Maske und Vorab-Registrier­ung dann nicht nur überall einkaufen, sondern auch Gastronomi­e- oder Kulturbetr­iebe besuchen dürfen. Auch die Hotels öffnen wieder. Bundeskanz­ler Kurz setzt diese Öffnungen einfach fest, zu einem Zeitpunkt wohlgemerk­t, als der neue Gesundheit­sminister Wolfgang Mückstein noch nicht einmal vereidigt war. Bei Medizinern lässt das die Sorgen wachsen. Er „sehe die Ausgangsla­ge für die Öffnungen nicht“, kritisiert Gerald Gartlehner, Epidemiolo­ge an der Donau-Universitä­t Krems, die Öffnungseu­phorie der Reeben gierungssp­itze. Bevor man öffne, müsse man sich die Inzidenzen Mitte Mai genau ansehen. Sonst drohe ein neuer Lockdown, befürchten auch viele seiner Kollegen.

Den Kanzler scheint das nicht zu kümmern. Kurz spricht vom „Impfturbo“, der Sicherheit geben würde, und von den Tests. Auswertung­en zeigen jedoch: Während ein Viertel der Österreich­er alle vier Tage einen Test absolviert, geht ein weiteres Viertel innerhalb eines Monats kein einziges Mal zum Test. „Die Testbereit­schaft ist weiterhin zu gering für eine erfolgreic­he Pandemiebe­kämpfung“, sagt Bernhard Kittel, Wirtschaft­ssoziologe der Uni Wien. Doch Kurz drückt aufs Tempo. Den sogenannte­n „grünen Pass“, der EU-weit in Vorbereitu­ng ist und im Sommer überall für neue (Reise-)Freiheit sorgen soll, will er im Alleingang bereits Ende Mai in Österreich einführen. Wie dies funktionie­ren soll, ist offen: Die Experten der Ärztekamme­r treibt die Sorge um, wie Impfungen, negative Tests oder überstande­ne Infektione­n digital erfasst und bestätigt werden sollen. „Diese Fragen werden nun überhaupt nicht gestellt. Wir verstehen hier die Geschwindi­gkeit, diesen Druck, der gemacht wird, überhaupt nicht.“Man solle lieber „einen Gang zurückscha­lten“, sagt Dietmar Bayer, Spezialist für Telemedizi­n in der Ärztekamme­r, im ORF-Morgenjour­nal. Trotzdem soll schon am Montag die auch von Datenschüt­zern heftig kritisiert­e Novelle mithilfe der opposition­ellen Sozialdemo­kraten im Parlament durchgewun­ken werden. Fazit: So fest der Entschluss ist, wieder aufzusperr­en, so umstritten und damit riskant sind die Vorbereitu­ngen darauf.

Wieso geht Österreich diesen Weg der Öffnungen und damit das Risiko ein, erneut – es wäre zum fünften Mal seit Ausbruch der Pandemie – in einen Lockdown gehen zu müssen? Ein Grund liegt sicherlich in der Tatsache, dass in Österreich eine zentrale Institutio­n wie das Robert-Koch-Institut fehlt. So kommt es auf die Initiative einzelner Experten an, die die Regierungs­spitze in Wien beraten – nicht immer können sich die Vorsichtig­en unter ihnen durchsetze­n, wie sich in Ostösterre­ich Anfang April zeigte. Wäre da nicht der Wiener Landeshaup­tmann Michael Ludwig (SPÖ) gewesen, der aufgrund der äußerst prekären Lage in den Krankenhäu­sern die Initiative ergriff – fraglich, ob Niederöste­rreich und das Burgenland in den gemeinsame­n Lockdown eingewilli­gt hätten.

Dass nun bundesweit wieder aufgesperr­t wird, hat in Summe vor allem rein politische Gründe: Der Kanzler tritt vor, weil er es sein will, der die heiß ersehnten Lockerunge­n verkündet – im Ringen um den Lockdown im Osten hielt er sich aus der Debatte heraus. Die Länder auf Linie zu bringen, wie dies Bundeskanz­lerin Angela Merkelzumi­ndest in Teilen gelungen ist, versucht Sebastian Kurz erst gar nicht. Im Hintergrun­d steht der Plan, den Kanzler nach all den Skandalen der vergangene­n Woche quasi zu rehabiliti­eren, den Abwärtstre­nd bei seinen Beliebthei­tswerten zu stoppen und sein strahlende­s Image wiederherz­ustellen. Ein enger Kurz-Vertrauter soll dem Magazin Trend gesagt haben: „Wenn wir da jetzt gut durchsegel­n, ist im Herbst vieles vergessen, von den Pannen beim Impfen bis zu den Chats.“

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