Zuschauer retten die Premiere
„W – Eine Stadt sucht ihre Wohnung“ist ein Lehrstück darüber, wie Theater in der Krise kreativ zum Angriff übergeht
Das Setting hinter dem Vorhang ist nichts, was im Theater interessieren soll. Denn hier ist nichts Illusion, hier geht’s real und meist unordentlich zu. Kulissenteile liegen herum, Kabel mit grellen Sicherheitsbanderolen sind am Boden verklebt. Menschen, Techniker und „Kulissenschieberinnen“huschen umher. Der Zauber fantastischer Welten vor dem roten Vorhang soll ungetrübt sein, die Premiere perfekt.
Nicht so im Staatstheater der digitalen Ära. Für seine Serie „W – Eine Stadt sucht ihre Wohnung“reiste Nicola Bremer, der Mann mit der Fisheye-Kamera, zum vierten Mal in der Fuggerstadt an. Im Kopf eine weitere Folge seines turbulenten Werks um Immobilienhaie, verschwundene Stadtbewohner, Organisierte Kriminalität und Gewalt im Widerstand. Doch hier ist der Weg das Ziel. Und das Publikum online Teil der Proben und Premieren.
Denn während Regisseur und Darsteller vor der Kamera arbeiten, im technischen Backoffice die Server für das Streamen auf TwitchTV heiß laufen, können Zuschauer im Live-Chat ihre Kommentare hinterlassen und so Script und Spiel beeinflussen. Mehr Teilhabe – wie sie im modernen Kultur- und Politikdiskurs gefordert ist – geht wohl nicht. Statt jahrzehntelang einstudierter Theaterabläufe sind Spontanität und Flexibilität oberste Gebote. Sekt und Selters, in Abendgarderobe sehen und gesehen werden, gehört der Vor-Corona-Zeit an. Hier glänzen dafür Kreativität und Technik. Denn der Stream und die bis zu vier Kameras auf den aus dem Martini-Park live übertragenen Sessions müssen spuren. Nichts darf wackeln, keine Verzögerungen zwischen Lippen und Ton dieses neue Theatererlebnis stören.
Im Zentrum des Fünfteilers von Bremer stand auch in der vierten Folge Laura, die Stararchitektin mit Moralanspruch. Sie kämpft mit sich und ihren gescheiterten Plänen für das Denkmalviertel von Adelma. Benutzt vom Immobilieninvestor Shark Trust und dem korrupten Bürgermeister für ihre Bauspekulationen, ist sie desillusioniert, ihre Schaffenskraft erloschen. Aber auch von der radikalisierten Gruppe „W“, die den Widerstand gegen die Spekulationsgeschäfte organisiert, wendet sie sich enttäuscht ab. Zu viel Gewalt und Instrumentalisierung. Dass sie zudem über das Schicksal der Tausenden von Verschwundenen des Viertels, darunter ihre Freundin Emma, auch mithilfe der Polizeichefin Martina nichts in Erfahrung bringen kann, gibt ihr den Rest. Hinzu kommt die ominöseste Frau im Plot der etwa acht Figuren: Geraldine. Sie soll eine der Verschwundenen sein, sucht den Kontakt zu Laura, gibt vor, Informationen zu Emma zu haben. Doch sie entpuppt sich als bezahlte Agentin der Immobilien-Heuschrecken. Laura zieht sich zurück. Die inneren Konflikte spitzen sich zu, bis sie erfährt, dass „M“, eine weitere Widerstandsgruppe, die Luxuswohnungen im abgerissenen und gentrifizierten Denkmalviertel von Adelma gekauft und Obdachlosen zur Verfügung gestellt hat.
Diese vierte Folge, die am Freitag Online-Premiere feierte, setzte auf das ohnehin ungewöhnliche, radikale Online-Format noch eins drauf. Denn alle eingeplanten Schauspieler waren wegen Quarantäne ausgeknockt. Doch statt abzusagen, startete Regisseur Nicola Bremer einen Aufruf an seine Fans und Zuschauer, ihm zu helfen und als Darsteller einzuspringen. 25 Szenen waren zu vergeben. Tatsächlich fanden sich ausreichend Teams und Einzel-Begeisterte, die die vorgeschriebenen, etwa zweiseitigen Texte auswendig lernten und zu Hause aufnahmen. Die Techniker des Theaters schnitten das Material hintereinander. Weil das nicht reichte, fanden sich spontan drei Darsteller (Julius Kuhn, Thomas Prazak und Wolfram Ostermeier), die Bremer im Flur kurzerhand rekrutierte, auf einer provisorischen Bühne im Einsingraum ein. Auch für den Regisseur, der mit Fisheye-Kamera die Textarbeit überwachte und Anweisungen erteilte (an seiner Seite Chatmoderatorin und Dramaturgie-Assistentin Marlies Grasse) war der Stream eine einzige Überraschungstüte.
Aus den Clips verdiente vor allem das Team der zwei Geschwister, die insgesamt vier Rollen professionell abdrehten, Oscar-Nominierung. Auch Laura als Roboter war spektakulär. Ein Zuschauer hatte seinen orangenen Kuka-Roboterarm mit blonder Perücke aufgenommen, der langsam durchs Bild schwenkt. Aus dem Off erzählt Laura, wie sie träumt und plant, der Einbrecherin eine Falle zu stellen. „Phänomenal“, kommentiert Bremer begeistert.
Es ist ein brisantes politisches Drama, ursprünglich konzipiert und beauftragt für interaktives Theater auf einer echten Augsburger Baustelle vor echtem Augsburger Publikum. Dem Techniker- und Darstellerteam sowie dem Regisseur ist zu danken, dass sie sich stur, witzig und kreativ auf die neuen Online-Möglichkeiten einzulassen wissen. Vor allem aber – das hält Bremer zum Schluss noch fest – passte die Einsicht „Ohne Publikum sind wir alle nichts“noch auf keine seiner Premieren so gut wie auf diese.