Angeklagte packt im Pflegebetrugsprozess aus
In dem Verfahren gegen einen Augsburger Anbieter hat nun die nächste Angeklagte gestanden. Sie erzählt, wie die Kassen betrogen wurden und warum auch Patienten dabei mitmachten
Die Angeklagte wirkt angespannt, aber konzentriert. Mit ruhiger Stimme erklärt die Frau mit den blonden Haaren, dass alle Anschuldigungen in der Anklageschrift gegen sie richtig sind. „Erst ab und nach meiner Inhaftierung wurden mir das Ausmaß und die Schwere meines Handelns bewusst“, sagt die zweifache Mutter und Ehefrau. Im Rückblick erschrecke sie über sich selbst, schäme sich und bereue alles zutiefst. Im Prozess um den offenkundig groß angelegten Pflegebetrug eines Augsburger Pflegedienstes ist die 59-jährige, ehemalige Pflegedienstleiterin eine von fünf Angeklagten, darunter drei Frauen und zwei Männer. Nach dem ersten Geständnis einer ehemaligen Mitarbeiterin ist sie die zweite Angeklagte, die jetzt zugibt, bei den kriminellen Tricksereien des Pflegedienstes mitgemacht zu haben.
Wie berichtet, wird nach einer bayernweiten Razzia 2019 in der Pflegebranche derzeit am Augsburger Landgericht der erste Prozess verhandelt. Vor Gericht stehen Verantwortliche des Augsburger Pflegedienstes Fenix. Mit falschen Abrechnungen sollen sie rund sieben Jahre lang Pflege- und Krankenkassen betrogen haben – dabei geht es um die beträchtliche Summe von rund 3,3 Millionen Euro. Der Betrug lief nach System. Vor der 10. Strafkammer unter dem Vorsitz von Richter Johannes Ballis gewährt die einstige Pflegedienstleiterin am Montag nicht nur Einblick in diese Systematik, die erschreckend simpel erscheint. Wie die Mitangeklagte zuvor, belastet auch sie mit ihren Aussagen erheblich Julia L., die von den Ermittlern als Hauptverantwortliche des Millionen-Betrugs gesehen wird. Die 43-Jährige war laut Anklage die heimliche Chefin des Pflegedienstes, was sie offenbar verschleiern wollte. Und das aus gutem Grund.
Denn Julia L. hatte bereits ein Pflegeunternehmen geführt und wurde wegen Schwarzarbeit zu einer Geldstrafe verurteilt. Weil die Kassen sie deshalb nicht mehr als Leiterin eines neuen Pflegedienstes akzeptiert und keinen Vertrag mit der Firma abgeschlossen hätten, soll den Ermittlern zufolge zum Zeitpunkt der Firmengründung ein
als Geschäftsführer benannt worden sein. Ihr ebenfalls mitangeklagter Ehemann Richard R. hatte wohl ebenso eine leitende Funktion. Offiziell firmierte Julia L. bei Fenix nur als Qualitätsbeauftragte, intern aber soll sie Mitarbeitern klare Anweisungen zum Betrug gegeben haben.
Wie die 59-jährige Angeklagte (Verteidiger Moritz Bode und Martina Sulzberger) erzählt, wurden für die Mitarbeiter des ambulanten
Dienstes schriftlich Tourenpläne erstellt, die zeitlich gar nicht zu schaffen gewesen wären. Nicht jeder Patient konnte, wie vorgegeben, angefahren werden. Aus Zeitdruck seien manche Patienten ausgelassen worden. „Aber wir mussten alle Leistungsnachweise vollständig ausfüllen, es wurde alles abgehakt, egal ob die Dienstleistung erbracht wurde oder nicht.“Darauf habe Julia L. genau geachtet. Die einstige Angestellte nennt Beispiele von ihrer damaligen Pflegetour, bei der sie täglich Patienten einer Gemeinde im Südwesten Augsburgs betreute.
Da wurde etwa ein Besuch zur Medikamentenabgabe ausgelassen, da die Arznei schon vorab bei einem anderen Besuch vorbeigebracht worden war. Auch fanden manche Besuche nicht statt, um Patienten Kompressionsstrümpfe an- oder auszuziehen, weil das die Angehörigen in Absprache erledigten. Abgerechnet wurde dennoch. Ein PaStrohmann tient, bei dem täglich drei Besuche durch den Pflegedienst abgerechnet wurden, sei nur einmal am Tag aufgesucht worden. Damit dies alles so funktionieren konnte, wurden Klienten und Angehörige offenbar zu „Mittätern“gemacht, indem sie Gegenleistungen erhielten.
Die Angeklagte berichtet von Geldkuverts, die sie von der „Chefin“für Patienten mitbekommen habe und von Absprachen mit den Klienten. Manche wünschten sich Hilfe im Haushalt, andere beim Einkauf. Die Gegenleistungen seien bereits bei der Aufnahme von Patienten abgesprochen worden. Am Monatsende jedoch habe man beim Pflegedienst alle Leistungsnachweise eintragen müssen. „Es durfte keine Lücke sein“, so die geständige Augsburgerin mit russischen Wurzeln. Wenn nötig, habe man auch die Kürzel eines Kollegen eingetragen. Auch bei der Einstufung von Pflegegraden sei ihrer Aussage zufolge getrickst worden, wie auch bei den Kontrollbesuchen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK). Die 59-Jährige betont, dass sie durch den Betrug keinen Gewinn in die eigene Tasche erwirtschaftet habe. Sie habe immer ihr fixes Gehalt von rund 2600 Euro netto erhalten, selbst als sie bei Fenix zur Pflegedienstleiterin ernannt wurde. Denn trotz des Karrieresprungs erhielt sie weder mehr Verantwortung noch mehr Geld, berichtet die Angeklagte. Die Ernennung auf die neue Position sollte nur formal sein, habe Julia L. ihr gesagt. „Ich wusste, dass sie große Probleme mit ihrem Ex-Mann hatte und sie deshalb selbst die nächsten Jahre nicht als Pflegedienstleiterin arbeiten konnte“, so die 59-Jährige. „Sie sagte, ich solle ihr vertrauen, es sei nur übergangsweise.“
Sie selbst habe bei dem Betrug mitgemacht, da sie ihre Arbeitsstelle unbedingt behalten wollte. Angst vor Arbeitslosigkeit habe sie gehabt, da sie mit ihren körperlichen Beschwerden Schwierigkeiten bei anderen Arbeitsstellen befürchtete. Rund drei Monate hat die Angeklagte nach der Razzia in Untersuchungshaft gesessen. „Das hat sie sehr mitgenommen“, meint ihr Verteidiger, der Augsburger Anwalt Moritz Bode. „Aber sie war frühzeitig geständig.“Seine Mandantin würde seitdem nicht mehr arbeiten.