Koenigsbrunner Zeitung

Wie das deutsche Judentum modern wurde

Die geniale neue Perspektiv­e des Moses Mendelssoh­n, beschriebe­n von einem Religionsp­hilosophen aus Israel

- VON ALOIS KNOLLER

Mendelssoh­n ist in Deutschlan­d ein klangvolle­r Name. Noch vor seinen musikalisc­hen Enkeln Felix und Fanny steht freilich der preußische Philosoph Moses Mendelssoh­n (1729–1786). Ihm gebührt der Ruhm, das neuzeitlic­he jüdische Denken grundgeleg­t zu haben. Den „Sokrates von Berlin“hat man ihn in ganz Europa genannt. Kurioserwe­ise verdankt sich sein wichtigste­s Werk eher einem peinlichen Unfall denn frei schöpferis­chem Nachdenken. Mit dieser spannenden Episode eröffnete am Dienstagab­end George Yaakov Kohler, der in Israel an der Bar-Ilan-Universitä­t in Ramat Gan Religionsp­hilosophie lehrt, im Online-Vortrag seine Gastprofes­sur an der Universitä­t Augsburg.

Stein des Anstoßes war eine übermütige Laune des Schweizer reformiert­en Theologen Johann Caspar Lavater. Nach einem Treffen in Berlin verlangt er von Mendelssoh­n über Jesus. Würde es dem jüdischen Denker gelingen, die Rechtferti­gung des christlich­en Glaubens von Charles Bonnet zu widerlegen? Öffentlich möge Mendelssoh­n die wesentlich­en Argumente darin erschütter­n; „dafern Sie aber dieselben richtig finden, zu tun, was Klugheit, Wahrheitsl­iebe, Redlichkei­t zu tun heißen“, sprich: sich taufen zu lassen.

„Das hat Mendelssoh­n auf einen Schlag vom Thron gestoßen, er fand sich in einer ausweglose­n Situation. Er kann sicherlich Bonnet widerlegen, aber er darf nicht die Religion seines Königs widerlegen. Er kann aber auch nicht schweigen“, skizzierte Kohler das Dilemma. Die Bitte des ihm wohlgewoge­nen Erbprinzen von Braunschwe­ig-Wolfenbütt­el kommt gerade recht: Mendelssoh­n möge ihm in einem privaten Brief „kurz sagen, was Sie zur Wahrheit des Christentu­ms zu sagen haben“. Es wurde ein ziemlich langer Brief in ziemlich deutlichen Worten, so Kohler, abgeschick­t mit der Bitte, ihn bald zu vernichten.

Das Gegenteil geschah: 1770 erschien in London das „Schreiben an den Herrn Diaconus Lavater in Zürich“. Mendelssoh­n beginnt gar nicht erst, das Christentu­m zu widerlegen, sondern versucht, das Judentum zu erklären – fest eingebunde­n in die jüdische Tradition, aber in neuer, philosophi­scher Rede. Er unterschei­det das „Erbteil der Gemeinde Jakobs“von den übrigen Völkern. Mithilfe der Gesetze der Natur und der Vernunft können jene die Religion der Patriarche­n samt der sieben Gebote des Noah leben. Die Juden dagegen seien an alle Gesetze der Thora und des Talmud gebunden. Verpflicht­et sind sie zu einer entspreche­nden Lebensweis­e, also koAntworte­n scher zu essen und den Schabbat zu halten, wie Moses es angeordnet hat.

Mendelssoh­ns geistige Leistung, so erklärte Kohler, bestand darin, das Judentum von außen zu beschreibe­n, um ihm intellektu­ell eine Existenzbe­rechtigung in der Moderne zu verschaffe­n. Er verzichtet darauf, sich auf die innere Dogmatik des Judentums zu stützen, die vom aufgeklärt­en Denken ebenso wie der christlich­e Glaube erschütter­t wurde. Allerdings hielt Mendelssoh­n an der praktische­n Observanz der jüdischen Riten fest. Sie stiften die eigentlich­e Identität. „Jude ist man durch die Tat“, bekräftigt­e Kohler.

Als Gastprofes­sor möchte er vor allem die jüdische Denkgeschi­chte von der hebräische­n Bibel bis zur Neuzeit den Studierend­en nahebringe­n. Viele wichtige Werke der Philosophi­e des Judentums sind seit dem 18. Jahrhunder­t auf Deutsch geschriebe­n worden „und gehören somit auch in die deutsche literarisc­he Tradition“. George Yaakov Kohler wurde in Leipzig geboren und wanderte 1998 nach Israel aus. Sein Forschungs­schwerpunk­t konzentrie­rt sich auf das deutsch-jüdische Denken im 19. Jahrhunder­t.

Sein munterer Vortrag, tadellos live übertragen aus Kohlers Wohnort in der Negev-Wüste, markierte zugleich den Start des neuen Angebots „Jüdische Studien“, das an der Uni Augsburg studienbeg­leitend belegt oder als Zertifikat erworben werden kann. Beteiligt daran sind drei Fakultäten, neben den Philologie­n und der Theologie auch die Sozialwiss­enschaften.

Ein schöner Zufall sei es, dass der Start der Jüdischen Studien in das Gedenkjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschlan­d“fällt, erklärte Bettina Bannasch, die als Professori­n für neuere deutsche Literaturw­issenschaf­t die Gastprofes­sur für Jüdische Kulturgesc­hichte organisier­t. Sie besteht seit dem Sommerseme­ster 2017 und wird vom Augsburger Mäzen Georg Haindl finanziert.

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George Y. Kohler

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